Der Schwund der britischen Identität -Die Ursachen des Brexit und seine Folgen- von Thomas Seidel
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Wenn nicht schnell eine Art volksrevolutionäre Bewegung dem politischen Establishment ein Ende setzt, gehen auf den Inseln bald die Lichter aus (Quelle: Berliner Zeitung Urheber: dpa) |
Viele Briten hat der Brexit in eine
nationale Identitätskrise gestürzt. Vor allem die Befürworter des
Austritts erhoffen sich eine regelrechte Katharsis von der
„Beschmutzung“ durch die Europäische Union. Sie sind bereit,
dafür auf Jahre hinaus auch schwere Lasten und Entsagungen auf sich
zu nehmen. Doch der nationale Konflikt basiert auch auf sehr alten
Feden. Zwischen dem Norden und dem Süden Englands; zwischen
Anglikanern und solchen, die das nie werden wollen und zwischen den
Generationen.
Nur wenigen ist wirklich klar, es ist
allein das Königshaus, welches in Personalunion als Könige die
Kronen von England und Wales und Schottland trägt. Nur das hält das
sogenannte „Großbritannien“ als Staatsgebilde überhaupt
zusammen. Es gibt gute Gründe dafür, warum dieses Großbritannien
bis heute keine moderne Verfassung hat. Diese Personalunion müsste
dann wahrscheinlich aufgegeben werden und damit auch die symbolische
Vereinigung der Kronen in einer Person. Letztlich stünde der Zerfall
dessen an, was wir seit rund vierhundert Jahren als das Vereinigte
Königreich wahrnehmen. Die Abneigung der Engländer gegenüber
Walisern und Schotten ist schon legendär und oft genug Stoff für
Witze. Kaum Einer nimmt aber das Jahrhunderte lange Zerwürfnis
zwischen dem Norden und dem Süden innerhalb Englands war. Das ist es
aber, was letztlich zum Brexit geführt hat.
Historischer Nord-Südkonflikt
Die Beziehung zwischen dem Norden
Englands mit Orten wie York, Liverpool, Manchester und dem Süden mit
seinem Zentrum London waren in England schon immer problematisch.
Ohne allzu weit historisch auszuholen, sei etwa an den Aufstand des
Nordens im „Pilgrimage of Grace“ zur Regierungszeit von König
Heinrich VIII um die 1530er Jahre erinnert. Vielleicht wegen der
Trennung Heinrichs vom Katholizismus, endet der Aufstand gegen den
König nach einigem hin und her mit einer furchtbaren Rache Heinrichs
an den aufständischen im Norden. Er ließ letztlich alle Führer des
Aufstandes öffentlich hinrichten.
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König Heinrich VIII (1491-1547) (Quelle: wikipedia, gemeinfrei, Werkstatt Hans Holbein d.J.) |
Nie wieder sollte der Norden Englands
im Ansehen der gesamten englischen Gesellschaft auch nur annähernd
auf dem Niveau der Südengländer ankommen. Nordengländer gelten bis
heute, vor allem bei den Londonern, als rückständig, ungehobelt,
bockig, sperrig, engstirnig und starrsinnig. Man diffamiert sie als
ungehobelte Leute, weder der feinen Sprache noch der feinen Sitten
der vornehmen Südengländer fähig. Später, im beginnenden
Industriezeitalter, das dank der Dampfmaschine schließlich in
England seinen Ursprung hatte, wurde der Norden vor allem als
Kohlelieferant und Stahlfabrik gebraucht, ohne dafür vom Süden
wirklich geliebt zu werden. Der Norden bleibt in den Augen der
Südengländer eine Region, wo man sich allenfalls dreckig machen
kann.
Mit dem wachsenden Kolonialreich im 18.
und 19. Jahrhundert machten die Briten dieselben fundamentalen Fehler
wie andere europäischen Kolonialmächte. Man beutete die Kolonien
gnadenlos aus und begründete so Zuhause damit einen fragwürdigen
Reichtum. Dem fehlte allerdings völlig die heimische wirtschaftliche
Substanz. Das vor allem ist der Unterschied zu großen
Kontinentalmächten wie heute den USA, Russland und neuerdings China.
Diese haben, zumindest theoretisch, so viele Ressourcen an Menschen
und Material im eigenen Land, dass sie damit versuchen können, ihren
Ambitionen aus eigener Kraft zu stemmen. Die beiden Weltkriege trugen
ihr übriges zum wirtschaftlichen Niedergang des „Empire“ bei.
Sie saugten Großbritannien auch noch die letzten Reserven aus. Schon
bald konnte das Mutterland seine Kolonien nicht mehr halten. So ist
seit den 1960er Jahren Großbritannien auf die Wirtschaftskraft einer
etwa 60 Millionen Menschen umfassenden Bevölkerung reduziert.
Dadurch kam man schließlich da an, wo man in England seit dem 17.
Jahrhundert eigentlich nie hinwollte, in Europa!
Moderne Auseinandersetzung
Nachdem Britannien also eigentlich
seine globale Bedeutung verloren hatte und schon längst von „Groß“
nicht mehr die Rede sein konnte, trudelte das Land in zwei fast schon
bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen: den Krieg in Nordirland
und den gnadenlosen Kampf der mächtigen Gewerkschaften mit ihrer
Basis von Arbeitern vor allem aus dem Norden. In dieser Phase kommt
in London mit Margaret Thatcher, eine streng patriotisch konservative
Politikerin als Premierministerin an die Macht. Sie will sich dem
offensichtlichen Niedergang des Landes entschieden entgegen stemmen.
Inzwischen schicken sich auch noch die Amerikaner, unter der
Präsidentschaft Ronald Reagans, an, dem Finanz- und Handelsplatz
London seinen weltweit bedeutenden Rang abzulaufen. Dem Land drohte
damit, noch mehr zu einer Randerscheinung in Europa zu werden.
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Margaret Thatcher (1925-2013) (Q wikipedia, Urheber: Chris Collins / Margaret Thatcher Foundation / CC BY-SA 3.0) |
Margarete Thatcher, deren Hass auf
einfache Arbeiter und die Gewerkschaften unauslöschlich war, brachte
es tatsächlich fertig, dieser Bevölkerungsschicht und ihren
Organisationen ein für alle mal regelrecht das gesellschaftliche
Genick zu brechen. Einmal mehr, sollte die stolze Schicht der
Arbeiter aus dem Norden des Landes um alles gebracht werden. Noch
heute zeugt der verheerende Zustand der Gegenden um Liverpool und
Manchester von dieser Niederlage. Aber Thatcher wollte nicht nur
einen einmaligen Sieg, sie wollte einen erneuten Widerstand von
Industriearbeitern für immer verhindern. Ihr Instrument sollte der
gezielte Aufbau einer straken Dienstleistungswirtschaft auf Kosten
einer industriellen klassischen Produktionswirtschaft sein. Das
Startsignal dazu wurde der Big Bang werden. Die völlige
Liberalisierung der britischen Finanzwirtschaft im Oktober 1986.
Seitdem entwickelte sich für lange Zeit ein immer rasanteres
wirtschaftliches Gefälle zwischen dem Norden und dem Süden
Englands. Die City of London fuhr von Jahr zu Jahr immer traumhaftere
Gewinne im Handelsgeschäft mit Finanzmitteln und Wertpapieren ein.
Die taffen Jungs und Mädels aus der City wurden enorm erfinderisch
im laxen Umgang mit Gesetzen, allem voran dem Steuerrecht.
Gleichzeitig verdienten viele von ihnen Jahr für Jahr
millionenschwere Boni. In Folge dessen, schossen die Immobilienpreise
nicht nur in London, sondern auch in weiten Teilen im Süden von
England in die Höhe. Dagegen verfielen im Norden die
Grundstückswerte. Während im Süden die Gehälter auf nie da
gewesene Höhen schnellten, wuchs die Arbeitslosigkeit im Norden.
Wie zur Verhöhnung der Armen, erschien
in der englischen Financial Times in diesen Zeiten regelmäßig ein
Hochglanzmagazin mit dem deutungsvollen Namen „How to spend it“.
Das war adressiert an einige wenige Neureiche. Es diente der
Beantwortung der sehr schwierigen Frage, wie sie ihre Millionenboni
am sinnlosesten wieder unter das Volk bringen konnten.
Probleme der Klassengesellschaft
Doch das allein ist nicht die einzige
Verwerfung der englischen Gesellschaft auf den Inseln. Von jeher
handelt es sich dort um eine Klassengesellschaft. Alter Adel und
Neureiche grenzen sich vom Rest der Bevölkerung aber auch
untereinander klar ab. Nichtvererbliche Adelstitel nur auf
Lebenszeit sind nichts weiter als aufwendige Verdienstorden. Von
solchen Emporkömmlingen grenzt sich der alte Adel selbstredend ab.
Es ist nahezu unmöglich, über den Schulweg und selbst durch
persönliches Talent gesellschaftlich in höchste Kreise
aufzusteigen. Überteuerte private Schuleinrichtungen biete jungen
Briten kaum Entwicklungsmöglichkeiten, selbst wenn gut betuchte
Eltern dahinter stehen und ihren Kindern einen Platz in solchen
Schulen erkaufen können. England, dass lieber die Sprösslinge
reicher Ausländer ausbildet, mit den diese Schulen viel gutes Geld
verdienen können, als die eigenen Talente systematisch für lau zu
fördern, leidet schon seit Jahrzehnten an einem heimlichen
Braindrain, dem keine Regierung bislang irgend etwas entgegen setzt.
Kein noch so erfolgreicher bürgerlicher Geschäftsmann kann ohnehin
jemals in die innersten gesellschaftlichen Kreise des
alteingesessenen Adels aufsteigen. Reiche Geschäftsleute aus dem
Ausland schon gar nicht. Der seit langem ausgeprägte Rassismus einer
weißen, anglikanisch-protestantischen Oberschicht und der ganzen
übrigen englischen Gesellschaft hat sich durch alle Jahrhunderte
hindurch nicht gebessert. Ausländer, gleich welcher Herkunft, sind
immer nur auf Zeit und immer nur aus wirtschaftlichen Überlegungen
heraus geduldet, letztlich aber nie wirklich akzeptiert, geschweige
denn integriert worden. Zuwanderern aus den ehemaligen Kolonien,
heute etwas verbrämt als „Commonwealth of Nations“ bezeichnet,
werden gegenüber anderen Ausländern aus „Dritten“ Staaten zwar
leicht bevorzugt. Sie bilden aber letztlich eine parallele
Gesellschaft. Zeitweise hat sich dieses Bild im Land durch die
Mitgliedschaft in der Europäischen Union geändert. Unionseuropäer
genossen eine Freizügigkeit, wie man sie selbst den
Commonwealth-Angehörigen nicht zugestehen wollte. Sie reisen ein und
aus dem Land wie es ihnen beliebt, können ohne besondere behördliche
Kontrolle arbeiten und sogar erwerben was sie wollen, ohne jeden
Zoll. Solange die EU von westlichen Staaten geprägt war, mochte das
den Engländern nicht viel ausmachen. Spätestens jedoch seit der
Osterweiterung der EU, betrachten viele Menschen diese neuen
EU-Bürger mit großem Misstrauen. Wieder vor allem im Norden
Englands, wo Osteuropäer der heimischen Bevölkerung durch ihre
relative Anspruchslosigkeit auch noch auf dem Arbeitsmarkt Konkurrenz
machen.
Fehleinschätzungen
Inzwischen sind die wirtschaftlichen
Verflechtungen mit der Europäischen Union in einer Art so engmaschig
geworden, dass ein Loslösung zwar für beide Teile schmerzhaft wird,
aber für Großbritannien sogar tödlich werden könnte. Allenfalls
in Bereichen wie der chemischen Industrie und bei Pharma spielt das
Land international noch eine Rolle. In jüngster Zeit sogar beim
elektronischen Ausschnüffeln von vermeintlichen Gegnern aller Art
und Herkunft. Getrennt von der EU könnten sich die Briten auf
absehbare Zeit nicht einmal aus heimischer Produktion selbst
ernähren. Der zwingende Import von Lebensmitteln und Gütern des
täglichen Bedarfs dürfte bei einem ungeregelten Brexit die Preise
für diese Waren in unerwartete Höhen treiben. Einem solchen
Preisanstieg werden für lange Zeit keine entsprechende
Einkommenssteigerung gegenüber stehen. Das von Margarete Thatcher
einst erzwungene Ende einer eigenen Schwerindustrie und dem
Ausverkauf ganzer Industriezweige, wie etwa der Automobilindustrie an
diverse ausländische Eigentümer, haben das Land insgesamt so
abhängig von wichtigen Produktionsmöglichkeiten in anderen Ländern
gemacht, dass eine Unterbrechung dieses Warenflusses sofort zu
Stillständen bei der Produktion führen wird.
Die Vorstellung, anstelle des Handels
mit der EU, die alten wirtschaftlichen Verflechtungen zu den
ehemaligen Kolonien kurzfristig wieder zu stärken, sind
propagandistisches Wunschdenken. Länder wie Kanada oder Australien
sind längst in lokalen Handelsverträgen eingebunden, bei denen auch
andere Mitglieder ein Wörtchen mitzureden haben. Die Vorstellung
Großbritannien als einen Appendix etwa in die NAFTA oder den ASEAN
einzubinden, ist absurd. Wenn überhaupt wird der Weg zu bilateralen
Abkommen sehr lange und beschwerlich. Schnelle Geschäfte über den
„Kanal“ hinweg wären da wesentlich einfacher. Man denke nur an
die komplexen Lieferketten moderner Produktionsprozesse.
Die von manchen gern gepriesene
Bedeutung Englands als Militärmacht ist schlicht eine Illusion.
Mag ja sein, dass das Land über
einiges Nuklearspielzeug verfügt. Allerdings hat bei Lichte besehen,
der ganze betriebene Aufwand nichts genutzt, um sich irgendeinem
aggressiven Vorgehen diverser Länder, Piraten oder
Terrororganisationen wirksam entgegen zu stemmen. Doch die
Unterhaltung der strategischen Waffen verursacht immense Kosten, für
die ohnehin schwächelnde Volkswirtschaft. Schon ist das Land nicht
mehr allein in der Lage, zum Beispiel sich selbst neue Atom-U-Boote
zu bauen. Es fehlt an den notwendigen Werftkapazitäten und auch
schon am notwendigen Know-how. So ist man gezwungen, Ersatz für etwa
die in die Jahre gekommenen Atom-U-Boote in Frankreich zu bestellen
und dort auch bauen zu lassen. Die Kosten dafür steigen künftig
dann, um wahrscheinlich 25 Prozent Zollaufschlag. Stolz verweist man
auf den eigenen Neubau von zwei modernen Hubschrauberträgern in der
Nähe von Aberdeen in Schottland. Einer sei angeblich fertig, der
andere noch im Bau. Freilich nutzen beide bis auf weiteres nichts,
weil man gar nicht über die Hubschrauber verfügt, die die
Kerneinsatzsysteme der beiden kostspieligen Träger sein sollen. Für
die eigene Landesverteidigung sind diese beiden Prestigeobjekte
ohnehin nicht auf Kiel gelegt worden. Irgendjemand in London ist vor
Jahren auf die schlaue Idee gekommen, diese Waffensysteme gegen Geld
an andere Nutzer auszuleihen. Man hat dabei vor allem etwa Singapore
im Auge.
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David Cameron (Quelle: wikipedia, copyright notice, Urheber: Meet the PM (direct image link) from the 10 Downing Street Website) |
Hasardeure
Wie kam eigentlich der Sieg der
Brexit-Befürworter vor rund zwei Jahren zustande? Weil eine
politisch desinteressierte, leicht arrogant und blasiert wirkende
relativ junge britische Bevölkerung, angesiedelt im Süden Englands
sich zu Schade dafür war, sich im entscheidenden Moment kräftig für
die eigene Zukunft zu engagieren. Dagegen liefen die, seit eh und je
herabgewürdigten und von London immer schlecht behandelten, eher
älteren Menschen vor allem im Norden fleißig an die Wahlurnen und
erzwangen in ihren Augen einen Triumph. Nichts von dem, was vor zwei
Jahren populistische Politiker wie Nigel Farage oder ein Boris
Johnson den Leuten vollmundig versprochen haben, wird auch nur
annähernd so eintreten. Das mag vielleicht inzwischen auch noch dem
letzten Bürger dämmern. Doch ist zu befürchten, dass immer noch
eine Mehrheit der englischen Wahlbevölkerung eher bereit ist, auf
Jahre schwere und schwerste Lasten und Entsagungen auf sich zu
nehmen, als den Traum von der Wiedererlangung der vollen nationalen
Souveränität aufzugeben.
Manche Politiker in der Europäischen
Union befürchten, der Austritt Großbritanniens könnte für andere
Mitgliedstaaten vielleicht zum Vorbild für eigene Ambitionen werden.
Das ist nicht zu befürchten! Der unweigerlich kommende, krasse
Niedergang Großbritanniens wird im Gegenteil so manchem nationalen
Politikwurstler klar machen, dass die eigne kleine und eigentlich
allein nicht überlebensfähige Nation nur im Verbund mit einer
gestärkten EU von seinem Land noch ein bisschen mehr übrig lässt,
als künftig nur noch das Reiseziel von Hunderttausenden asiatischer
Touristen zu sein.
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