Das unbezahlbare Wohlstandseuropa der 68er-Generation -Ein gesellschaftspolitisches Essay- von Thomas Seidel

Studentenproteste der 1968-Generation
(Quelle: kpoe.at/uploads/pics/studentendem_68.jpg)

In Europa lässt sich schon seit geraumer Zeit so gut wie nichts mehr bewegen. Das gilt sowohl für den wirtschaftlichen Bereich, besonders aber im Politischen. Statt sich den globalen Herausforderungen durch ein mutiges Mehr an Integration zu stellen, wird vermehrt nationaler Egoismus und zum Teil auch schon Revanchismus betrieben. Die in der Presse emotional geführten Auseinandersetzung der letzten Monate, vor allem zwischen Deutschland und Griechenland, in Fragen der Staatsschuldenkrise und die ganz aktuell geführten Debatten zum Umgang mit den Flüchtlingsströmen, zeigen eine hässliche Fratze des ansonsten gerne gepflegten Erfolgs im Gesicht der Europäischen Gemeinschaft. Die Gesellschaften, allen voran der älteren westlichen EU-Mitgliedsländer, halten krampfhaft fest am erreichten sozialen Status quo.

Manche der jüngeren, östlichen Beitrittsländer zeigen noch eine gewisse gesellschaftliche Dynamik. Allzu oft aber besteht diese Dynamik nur darin, besser bezahlte Jobs in den westlichen Mitgliedsstaaten zu finden. Die Wirtschaft in der Gesamt-EU wächst zwar, doch nur schleppend langsam. Zumindest im Vergleich mit anderen globalen Wirtschaftsgebieten wie Nordamerika, China oder Asien geht es kaum voran. Die jüngsten Staatsfinanzkrisen, besonders in Griechenland, aber auch in Spanien, Portugal, Irland und Frankreich, sowie immer schon und andauernd in Italien, sollten einmal vor dem Hintergrund eines Zeitbogens der letzten fünfzig Jahre, also etwa seit Mitte der 1960er Jahre betrachtet werden. Dann zeigt sich ein interessanter Zusammenhang, der sich so durch kurzfristigere Betrachtungen einfach nicht erkennen lässt.

Emanzipation
Als nicht nur die Beatles und die Rolling Stones bei den Teenagern der 1960er Jahre damit begonnen hatten, die bis dahin als spießig empfundenen Sitten aufzuweichen, enthemmte sich der junge Teil der Gesellschaft immer mehr und es begann ein Prozess, der erst später mit dem Begriff der Emanzipation belegt werden sollte.

Jean-Léon Gérôme Sklavenmarkt in Rom 1884 
(Quelle: wikipedia gemeinfrei Ermitage St.Petersburg)
Im Kern leitet sich das Wort Emanzipation aus einem lateinischen Rechtsbegriff ab und bedeutet so viel wie: „Jemanden oder Etwas“ aus dem Besitz oder besser aus dem Eigentum eines Anderen zu entlassen. „Jemanden“ vor allem deshalb, weil im antiken Rom natürlich auch Sklaven, Frauen und Kinder Eigentum eines Herren (pater familias) sein konnten. Der tatsächliche Rechtsakt der Emanzipation war also nicht nur ein symbolischer Akt der Befreiung, sondern auch und vor allem ein Juristischer. Erst so konnten Unfreie auf legale Weise zu freien Menschen werden.

Dieses Gefühl der Befreiung von Konventionen und Kontrollen aller Art war das, was die neue Generation für sich anstrebte. Äusserlich am deutlichsten erkennbares Zeichen war der ungehemmte Wuchs aller Haare bei Männern und Frauen. Heute kaum vorstellbar, wurden damals Gerichtsprozesse um die angemessene Haarlänge, vor allem von Menschen im öffentlichen Dienst, etwa wie bei der Bundeswehr und der Polizei, geführt. Musicals wie Hair und Jesus Christ waren Kassenschlager. 

Haartracht der 1970er Jahre
(Quelle: Urheber unbekannt)
Den angepassten Frisierten standen die unkonventionellen Haarigen gegenüber. Die Branche der Frisöre drohte eine zeitlang auszusterben. Das ist heute besonders witzig, wenn man bedenkt, was aktuell für ein Fetisch gerade um die Entfernung aller Körperhaare und die coole Gestaltung des Haupthaars getrieben wird und man inzwischen mehr Frisörläden antrifft als Bäcker, Metzger oder andere Grundversorger.

Das Entstehen der 68er-Generation
Überall in Ländern der westlichen Welt, besonders aber in Europa und dort speziell in Deutschland wuchs eine Generation heran, die hierzulande kurz nur als die 68er-Generation bezeichnet wird. Darunter versteht man vor allem jene Jahrgänge, die um dieses Stichjahr herum etwa zwischen 18 und 25 Jahre alt waren, also die Geburtsjahrgänge von ca. 1943 bis 1950. Die zeitlichen Grenzen bleiben freilich fließend.

In der zweiten Hälfte der 1960er Jahre setzte allmählich ein Prozess ein, den man auch als die Kulturrevolution von 1968 bezeichnet. Ein Begriff mit einem ganz bösen Ohmen. Abgeleitet wurde er von der, im kommunistischen China ab 1966 durch den Parteiführer Mao Zedong (früher: Mao Tsetung) ausgelösten, politischen Kampagne zur Erneuerung der KP Chinas.

Chinesische Rotgardisten 1971 
(Quelle: wikipedia Villa Giulia gemeinfrei)
Was angeblich zum Aufbrechen verkrusteter Funktionärsstrukturen in der Partei angefangen wurde, entpuppte sich nur allzu schnell als Mittel für politisch sehr anpassungsfähige Leute, unbeschadet gewaltsam dreckige Wäsche zu waschen. Illegale Übergriffe, Folter, Mord und Totschlag an der Bevölkerung durch Parteifunktionäre und unter Parteifunktionären waren im China dieser Zeit an der Tagesordnung.

So gewalttätig ging es zwar in den Staaten der westlichen Welt zunächst nicht zu. In Deutschland aber schlüpfte eine erste Nachkriegsgeneration aus der Pubertät, die sich vor allem am Schweigen ihrer Eltern störte. Jene Elterngeneration hatte auf die immer bohrender werdenden Fragen zum Thema Nazizeit nur allzu oft keine Antwort. Im Geschichtsunterricht der Zeit systematisch totgeschwiegen, schließlich waren sehr viele der damals unterrichtenden Lehrer selbst mehr oder weniger in Naziaktivitäten verwickelt, lieferten eben auch die Elternhäuser keine nachvollziehbaren Antworten.

Konzentrationslager Auschwitz 
(Quelle: wikipedia CCL Bundesarchiv, 
B 285 Bild-04413 _ Stanislaw Mucha _ CC-BY-SA)
Da war etwa zum Thema „Systematischer Völkermord“ gerne mal von >Alliierter Siegerpropaganda< die Rede. Auf Fragen wie denn das Leben unter den Nazis so war und was die so alles getrieben haben, kamen Standardsprüche wie:

„Man habe davon eigentlich nichts mitbekommen.“

„Man habe keine Ahnung.“

„Man sei ja in den schweren Kriegszeiten vor allem mit dem eigenen Überleben beschäftigt gewesen.“

Sieht man die ekstatisch jubelnden Massen deutscher Bürger in den Propagandafilmen der Nazis, etwa beim triumphalen Einzug Hilters in Österreich und der Heim-ins-Reich-Holung des Sudetenlandes, oder den Reichsparteitagen und sonstigen Propagandaveranstaltungen, will aber später keiner von den Jubelmassen mit dabei gewesen sein. 

Wien Heldenplatz 15.März 1938 
Adolf Hitler spricht zur Eingliederung Österreichs
(Quelle: wikipedia CCL Bundesarchiv, Bild 183-1987-0922-500 _ CC-BY-SA)


Die Jugend der Zeit beschlich mehr und mehr das Gefühl, systematisch belogen zu werden.

Das ging den jungen Leuten in Amerika auch nicht anders, allerdings vor einem ganz anderen Hintergrund. Feierte sich die amerikanische Öffentlichkeit im Hinblick auf den 2. Weltkrieg gerne als die überragenden Sieger und Retter der Demokratie, konnte man das aktuell desaströse Geschehen im Vietnamkrieg nicht erklären.

Vietnam Krieg Bilder zwischen 1966-1968 
(Q wikipedia US Army US Federal Government public domain)
oben links: Die Schlacht von Hamo Village
oben rechts: UH-1-D Helikopter während Operation Wahiawa
unten links: nicht identifizierte tote Vietnamesen auf der Straße
unten rechts: Niederbrennung eines Viet Kong Camps

So oder so, vergangene oder aktuelle Kriegslügen zermürbten eine ganze junge Generation, die sich doch gerade in ihrer persönlichen Orientierungsphase befand.

Die Entwicklung der 68er-Generation
Jede Zeit hat noch immer irgendwie eine Art Rebellion der Jugend erlebt und so manches mal im Verlauf der Geschichte sind solche Rebellionen gar in Revolutionen umgeschlagen. Es gibt aber einen deutlichen Unterschied zwischen allen Revolutionen vorher und der Kulturrevolution der 1968er Jahre.
Normlerweise haben Revolutionäre ein klare Vorstellung davon, wie sie etwas anders machen wollen und was sie anstelle des Alten einsetzen. Doch die Besonderheit der 68er Kulturrevolution war, dass man zwar alles kaputt geschlagen hat, was einem nicht passte. Aber die 68er-Generation hatte nichts, aber auch gar nichts, was sie an die Stelle des revolutionär Zerschlagenen einsetzten konnte oder wollte. Diskutiert wurde zwar ohne Ende, aber etabliert wurde nichts. Keine Dogmen, keine Werte, keine Riten, kein Konzept.

Studentisches Protestbanner gegen eine akademische
Feierlichkeit in traditionellen Trachten 
(Quelle: picture-alliance_dpa)
Das Motto an deutschen Universitäten lautete: „Unter den Talaren, der Muff von tausend Jahren.“ Die Politrockband Ton Steine Scherben lieferte dann auch gleich die musikalische und gesangliche Grundlage mit einem Lied dazu: „Macht kaputt, was Euch kaputt macht!“

Weder solche Protesthaltungen noch die entsprechenden öffentlichen Riten und dazu passenden Gesänge waren allerdings neu. Immer wieder lassen sich Mitläufer gedankenlos zu Aktionen hinreisen, verdammen das Dahergekommene und wollen mit Macht eine neue Ordnung etablieren. 

Bücherverbrennungen 11.Mai 1933 Berlin 
(Quelle: wikipedia Bundesarchiv, 
Bild 102-14597 _ Georg Pahl _ CC-BY-SA 3.0)
Kaum dreißig Jahre vorher lief ein anderer Mob durch deutsche Städte, verbrannte Bücher und sang: „Die Fahne hoch...“. Was für eine Analogie der deutschen Geschichte!

Umschlagen der Studenten-revolten in Gewalt

In Deutschland wurden revolutionäre Demonstrationen und Aktionen bald gewalttätig. Ein Schlüsselereignis ist dabei der Tod des Westberliner Studenten Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 in Berlin. Am Rande eines Staatsbesuchs, des seinerzeit im Iran herrschenden Schahs von Persien Reza Pahlavi, erschoss der West-Berliner Polizist Karl-Heinz Kurras, soweit man heute weiß ohne Not, den 26-jährigen Studenten gezielt durch einen Schuss in den Hinterkopf. Pikanterweise stellte sich erst 2009 heraus, dass Kurras damals ein inoffizieller Mitarbeiter des DDR-Staatssicherheitsdienstes war.

Die Folgen dieser tragischen Tat sollte Deutschland für über ein Jahrzehnt in Angst und Schrecken versetzen. Zwei Epizentren des studentischen Aufstandes gab es. Berlin, was aufgrund seiner isolierten Lage allerdings nur indirekte Ausstrahlungskraft auf die Westdeutsche Bundesrepublik besaß, aber dort allen voran Frankfurt am Main.

Geistige Grundlagen der Frankfurter Schule
Die Frankfurter, heute als Johann-Wolfgang-von-Goethe-Universität bekannte, Hochschule war erst am 18. Oktober 1914 als Stiftungsuniversität gegründet worden. Sie entwickelte sich aber recht schnell zu eine der führenden und großen Universitäten in Deutschland. 1919 entstand dort der erste Lehrstuhl für Soziologie in Deutschland, welcher von Franz Oppenheimer besetzt wurde. Im folgten Karl Manheim und später Max Horkheimer und Theodor W. Adorno nach.

Adorno (vl.) Horkheimer (vr.) Habermas (hr.) 
(Quelle: wikipedia CCL Jjshapiro at en.wikipedia)
Besonders die beiden letztgenannten hatten mit ihren Arbeiten zur „Dialektik der Aufklärung“ wesentliche Beiträge zur so genannten „Frankfurter Schule“ geleistet. Diese hatte sich aus der Arbeit des 1924 eröffneten Instituts für Sozialforschung entwickelt. Dieses Institut konnte geschickt und frühzeitig den nazionalsozialistischen Nachstel-lungen entkommen und somit auch während der Naziherrschaft im Ausland weiter arbeiteten.



Erste Studenten aus der 1968er- Zeit begannen prominent zu werden:

Rudi Dutschke, Jahrgang 1940, ein Wortführer der West-Berliner Studentenbewegung.


Fritz Teufel, Jahrgang 1943, aktiver Teilnehmer der Berliner Studentenbewegung


Daniel Cohn-Bendit 1968
 (Quelle: wikipedia CCL Jac. de Nijs _ Anefo)


Daniel Cohn-Bendit, Jahrgang 1945, zunächst ein Wortführer der französischen Studenten, später in der Frankfurter Szene aktiv, Herausgeber des Stadtmagazins Pflasterstrand. Heute Europaabgeordneter.


Joschka Fischer auf einer Pressekonferenz der Grünen am 17.2.1983 
(Quelle: wikipedia Bundesarchiv, B 145 Bild-F065084-0014 / Schaack, Lothar / CC-BY-SA)


Joschka Fischer, Jahrgang 1948, engagiert in der Frankfurter Studentenszene, später Politiker der Partei der Grünen, erster grüner Landesminister in Hessen, später Bundesaussenminister.


Gerhard Schröder, Jahrgang 1944, Jungsozialist in der SPD und späterer Bundeskanzler.


Tom Koenigs, Jahrgang 1944, aktiv in der Berliner Studentenbewegung, später Stadtkämmerer in Frankfurt am Main.


Johnny Klinke, Jahrgang 1950, Mitglied der antiauthoritären Studentenbewegung, aktiv in der Frankfurter Hausbesetzerszene, heute Theaterdirektor des Tigerpalast in Frankfurt am Main.


Klaus Trebes, Jahrgang 1947, Mitglied der Frankfurter Straßenkämpferszene, später Inhaber des Feinschmeckerrestaurants Gargantua in Frankfurt.


Heidemarie-Wieczorek-Zeul, Jahrgang 1942, Jungsozialistin in der SPD, später Bundesministerin.


Rudolf Scharping, Jahrgang 1947, Landesvorsitzender der SPD-Jungsozialisten in Rhein-Pfalz, später Rheinland-Pfälzischer Ministerpräsident und zeitweise Bundesvorsitzender der SPD und möglicher Kanzlerkandidat.


Diese Liste ließe sich beliebig verlängern und hat also keinen Anspruch auf Vollständigkeit.

Viele der damaligen Studenten fanden später ihren Weg in die Politik, sei es im sozialdemokratischen Lager, sei es im Lager der noch neuen Grünen Partei, die, zunächst als Umweltpartei, aus eine Reihe bürgerlicher Protestbewegungen hervor gegangen ist. Aber auch im politisch konservativen Lager findet man ehemals studentische Protagonisten dieser Zeit. Mancher machte sich selbständig, mancher machte Karriere in der ansonsten offiziell so verachteten kapitalistischen Wirtschaft.

Jahrzehnte des Terrorismus
Die auf die unmittelbar studentischen Protestbewegungen folgenden 1970er Jahre wurden in Europa, insbesondere in Frankreich, Italien und am entscheidensten in Deutschland zu einer Zeit gewalttätigen politischen Aktionismus und schließlich des reinen Terrorismus.

Andreas Baader & Gudrun Ensslin während Kaufhausbrand Prozess
 (Quelle: AP)
Schon am 2. April 1968 hatte eine gewalttätige Gruppe, unter ihnen Andreas Baader und Gudrun Ensslin, in zwei Frankfurter Kaufhäusern Brände gelegt. Andreas Baader wurde im Mai 1970 gewaltsam aus dem Gefängnis befreit. Schlüsselfigur dabei war eine Journalistin namens Ulrike Meinhof.

Ulrike Meinhof 1964 
(Quelle: wikipedia frei Urheber:
 unbestimmtes Mitglied der Familie Meinhof)
Man tauchte in den Untergrund ab. Später wird diese so genannte Erste Generation von Terrorristen als Baader-Meinhof-Bande bezeichnet. Sie selbst werden sich die „Rote-Armee-Fraktion“ nennen.

Für den Untergrundkampf ausgebildet durch die palästinensische Al-Fatah, begeht die Rote-Armee-Fraktion in erster und weiteren Generationen in schneller Reihenfolge einen Terroranschlag nach dem anderen:

Mai 1972, Bombenanschlag auf das US-Hauptquartier im IG-Farben-Haus in Frankfurt am Main


Februar 1975, Entführung des Berliner Politikers Peter Lorenz


April 1975, Geiselnahme in der Westdeutschen Botschaft in Stockholm


April 1977, Ermordung des Generalbundesanwalts Siegfried Buback, seines Fahrers Wolfgang Göbel und Georg Wusters


Juli 1977, Ermordung des Dresdner Bank Vorstandes Jürgen Ponto


September 1977, Entführung und spätere Ermordung Hanns Martin Schleyers


Oktober 1977, Entführung der Lufthansamaschine Landshut und Ermordung des Flugkapitäns Jürgen Schumann, durch ein palästinensisches Kommando zur Befreiung der Gefangenen RAF-Mitglieder


Juni 1979, Anschlag auf den NATO-Oberbefehlshaber in Europa Alexander Haig


Februar 1985, Ermordung von Ernst Zimmermann, Chef von MTU


August 1985, Ermordung des US-Soldaten Edward Pimental


Juli 1986, Ermordung von Siemens Manager Karl-Heinz Beckurts und dessen Fahrer Eckhard Groppler


Oktober 1986, Ermordung des Aussenamts-Diplomaten Gerold von Braunmühl


November 1989, Ermordung des Deutsche Bank Vorstandes Alfred Herrhausen

April 1991, Ermordung von Detlev Karsten Rohwedder Präsident der Treuhandanstalt

Auch diese Auflistung ist, bedauerlicherweise, nicht vollständig.

Neben der Rote-Armee-Fraktion und ihren Folgekommandos, hatten sich auch in Frankreich und besonders in Italien ähnliche Terrorstrukturen gebildet, die sich zum Teil auch gegenseitig unterstützten. In Frankreich war dies insbesondere eine Gruppe unter dem Namen „Action Directe“. In Italien nannte sich eine Terrorgruppe „Brigate Rosse (dt. Rote Brigaden)“.

Aldo Moro in der Hand der Roten Brigaden 
(Quelle: wikipedia gemeinfrei)
Letztere entführten und ermordeten den italienischen Politiker und zeitweiligen italienischen Ministerpräsidenten Aldo Moro im Jahr 1978.

Terrorfahndung und Innenpolitik
Einher ging die Fahndung nach den Mitgliedern dieser Terrorgruppen mit der Entwicklung neuer technischer Instrumente der Polizei. Der damalige Präsident des Bundeskriminalamts Horst Herold trieb die Anwendung neuer datentechnischer Analyseverfahren massiv voran. Der Begriff der Rasterfahndung war geboren. Dabei handelt es sich um eine systematische Durchforstung von elektronischen Datenbeständen, zum Zweck der Aufspürung von kriminellen Personen.

Über dieses Fahndungsinstrument kam es in 1970er Jahren in Deutschland zu heftigsten politischen Auseinandersetzungen. Das Instrument der Rasterfahndung wurde kritisiert als ein unheilvolles Durchleuchtungsmittel der Privatsphäre auch unbeteiligter Personen. Die Anwendung der Rasterfahndung wurde schließlich gesetzlich streng geregelt und zuletzt höchstrichterlich eingeschränkt.

Bundeskriminalamt Wiesbaden 
(Quelle: wikipedia CCL Urheber Wo st 01)
In Deutschland wurde per Rechtssprechung ein interessantes neues Recht geschaffen, das so zunächst nirgendwo auf der Welt sonst existierte: Das Recht auf informelle Selbstbestimmung. Diese an sich nützliche politische Auseinandersetzung ist im Rückblick gesehen insofern ein Hohn, weil die Menschen in der heutigen elektronischen Kommunikationswelt des Internet de facto die informelle Selbstverstümmelung betreiben und völlig bedenkenlos und unkritisch mehr Informationen über sich selbst preisgeben, als es die Rasterfahndung je vermocht hätte, für den speziellen Zweck der Kriminalitätsbekämpfung zu leisten.

Rechtliche Aufbereitung des Terrorismus
Wie dem auch sei, sofort mit den ersten Fahndungserfolgen gegen den Terrorismus, betraten eine Reihe von Anwälten zur Verteidigung der Beschuldigten die Bühne der Rechtsverfahren, die ihrerseits, in der ein oder anderen Weise, Teil eines gesellschaftsbildenden Prozesses werden sollten:

Horst Mahler, Jahrgang 1936, trotz seines älteren Jahrgangs in den 1960er Jahren in der studentischen ausserparlamentarischen Opposition radikalisiert, driftete später selbst in die Rote-Armee-Fraktion ab und wandte sich viel später dem Rechtsradikalismus zu. Er verteidigte unter anderem Rudi Dutschke, Andreas Baader und Gudrun Ensslin.


Rupert von Plottnitz, Jahrgang 1940, während des Studiums Mitglied des Sozialistischen Deutschen Studentenbunds (SDS), zeitweise Ratsmitglied der Stadt Frankfurt am Main und zweitweise Staatsminister, verteidigte unter anderem das RAF-Mitglied Jan-Carl Raspe.


Hans-Christian Stöbele 1987 
(Quelle: wikipedia CCL Foto- Michael Lucan, Lizenz- CC-BY-SA 3.0)


Hans-Christian Ströbele, Jahrgang 1939, Verteidiger des RAF-Mitglieds Andreas Baader, Grünen-Politiker, langjähriges Bundestagsmitglied.


Otto Schily 1983 
(Quelle: wikipedia CCL Bundesarchiv,
 B 145 Bild-F065084-0002
 _ Schaack, Lothar _ CC-BY-SA)
Otto Schily, Jahrgang 1936, verteidigte Horst Mahler und die RAF-Terroristin Gudrun Ensslin. Schily zeigte sich später politisch außerordentlich flexibel, war Gründungsmitglied der Partei der Grünen, wechselte später zur SPD und wurde schließlich Bundesinnenminister.

Diese Aufzählung ist nur ein Auszug von einer Vielzahl weiterer Personen, die in der gesellschaftlichen Entwicklung der Zeit eine Rolle spielten.

Wendepolitik
Inzwischen hatte sich auf der politischen Bühne in Deutschland die sogenannte Bonner Wende vollzogen. Am 1. Oktober 1982 war Helmut Kohl zum neuen Bundeskanzler gewählt worden, er propagierte eine geistig-moralische Wende. Der nur rund fünfzehn Jahre älter als die 68er-Generation Geborene, Jahrgang 1930, empfahl sich selbst, im Gegensatz zu seinen Vorgängern, als am Nazideutschland Nichtbeteiligter (Gnade der späten Geburt). Doch die vier Legislaturperioden die Helmut Kohl hintereinander Bundeskanzler bleiben sollte, wurden politisch zu 16 lähmenden Jahren für Deutschland. Die ersten sechs Regierungsjahre konnte Kohl kaum etwas bewirken, weil er innerparteilich von seinem Widersacher Franz-Josef Strauß, sowohl in dessen Funktion als Bundesminister, zeitweiliger Bundeskanzlerkandidat, wie auch als Bayrischer Ministerpräsident, ständig vor sich her getrieben wurde. Etwa ein Jahr nach dem Tod von Kohls politischem Erbfeind, fiel in Deutschland die Mauer. 

Helmut Kohl 1973 
(Quellle: wikipedia CCL Bundesarchiv, 
B 145 Bild-F041436-0027 _ Engelbert Reineke _ CC-BY-SA)
Die Systeme der kommunistischen Ostblockstaaten brachen zusammen. Vom Strudel der Ereignisse rund um die deutsche Wiedervereinigung wurde die deutsche Politik mehr geschubst und gerissen, als das durch die Regierung Kohl tatsächlich eine langfristig richtungsweisende Politik gemacht werden konnte. Kohl versprach den Neubürgern der ehemaligen DDR blühende Landschaften. Erkauft wurde die deutsche Wiedervereinigung, in Europa sicherlich ein einmaliger Sonderfall, mit einem steuerlichen Solidaritätszuschlag und weiterer Staatsverschuldung.

In dieser Gemengelage aus Stemmen einer Wiedervereinigung, Erhaltung von Status quo im Westen einerseits, es Jedem-recht-machen-wollen andererseits, sowie fremdgesteuerten Ereignissen von außerhalb der Landes, wie zum Beispiel dem Abschaffen der Deutschen Mark, hatten sich nach und nach die vielen Protagonisten der 68er-Generation ihren Weg, vor allem entlang der Karriereleitern des öffentlichen Dienstes und der Politik, gebahnt.

Gerhard Schröder 2002 
(Quelle: wikipedia GNU Lizenz Urheber Schwarzwälder)
Nach dem Ende der Kohl'schen Wendejahre und dem sowohl politischen wie wirtschaftlichen Trümmerhaufen, den diese lange Zeit konservativer Stillhaltepolitik hinterlassen hatte, waren nun sie auf einmal zu denjenigen geworden, die spätestens mit der Wahl von Gerhard Schröder zum siebten Kanzler der Bundesrepublik Deutschland 1998 am Gipfel der Macht angekommen waren. Im Justizsystem übrigens, dessen Postenbesetzung für die breite Öffentlichkeit immer unter einem Schleier verborgen bleibt, waren entsprechende obere und oberste Richterstellen durch die 68er-Generation früher erklommen worden.

Staatsumbildung durch die 68er-Generation
Während die Kinder der 68er-Generation, natürlich bis Ende der 1970er Jahre dem Kindesalter entwachsen, dann als Teenager und Jugendliche in den 1980er Jahren als die neue „Generation Golf“ heran wuchs und mangels jeglicher Wertevermittlung seitens ihrer Eltern sich nur an den Maßstäben des heiß beworbenen Konsums orientieren konnten, hatten es sich ihre Eltern wirtschaftlich in den immer auskömmlicheren Leistungen des öffentlichen Dienstes bequem gemacht. Das nämlich war im Kern die Wirtschafts- und Sozialpolitik des Kanzlers Helmut Kohl. Um jeglichen harten Auseinandersetzungen aus dem Weg zu gehen, pflegte man die großzügige Verteilung nicht vorhandener, deswegen schuldenfinanzierter, Staatsmittel.

Norbert Blüm 1986 
(Quelle: wikipedia Bundesarchiv, 
B 145 Bild-F073616-0021 _ Schaack, Lothar _ CC-BY-SA)
Es begann der Ausbau eines allumfassenden Sozialstaats. An erster Stelle zuständig war für diese Aufgabe Kohls langjähriger Arbeitsminister Norbert Blüm (Zitat: „Unsere Renten sind sicher!“). Die 68er-Generation hatte sich also inzwischen einen eigenen Versorgungsstaat gestaltete, dessen Finanzierung vor allem zu Lasten zukünftiger Generationen geregelt wurde. Obwohl man bereits Anfang der 1980er Jahre sehr genau die kommende demographische Entwicklung einer zunehmend älter werdenden Bevölkerung absehen konnte, gab man zum Beispiel den Ansinnen der Gewerkschaften nach sinkendenm Renteneintrittalter, verkürzten Arbeitszeiten und massiv ausgeweiteten Sozialleistungen nach. Mit einem Satz: Die 1968er-Generation baute sich ein richtig nettes gemütliches Wohlstandsnest.

Europäische Entwicklung und Folgen
Diese Entwicklung blieb bei weitem nicht auf Deutschland beschränkt. Dabei muss man berücksichtigen, dass in einigen Staaten des westlichen Europas während der 68er-Zeit für die Menschen immer noch erschwerte politische Bedingungen herrschten.

In Griechenland kam es im April 1967 zu einem Militärputsch, angeblich zur Abwehr kommunistischer Einflußnahme. Das wurde nicht anders begründet als 1973 die Militärdiktatur in Chile.

Griechische Generäle des 1967 Putsches 
(Quelle: unbekannt Public domain)
Die griechische Militärjunta diskreditierte sich allerdings 1974 wegen des türkischen Einmarsches in Zypern selbst. In einer neuen Verfassung wurde das griechische Königtum durch eine Republik ersetzt. Erst seitdem konnte Griechenland sich klar in Richtung der Europäischen Union ausrichten.


Spanien befand sich seit Ende des Bürgerkriegs 1939, unter der Diktatur des Generals Francisco Franco, in einem gesellschaftlich gelähmten Zustand. Franco war neben Hitler und Mussolini der letzte der faschistischen Diktatoren, der die Zeit überdauert hatte und der einzige der eines natürlichen Todes starb.

Francisco Franco (1. Reihe rechts) 1940 neben Heinrich Himmler 
(Quelle: wikipedia CCL Bundesarchiv, Bild 183-L15327 _ CC-BY-SA)
Franco, der die spanische Monarchie in der Schwebe hielt und sich mit Juan Carlos de Borbón einen Nachfolger heran zog von dem er glaubte, dass dieser seine national-konservative Diktatur als König fortsetzen würde, erlag erst 1975 den Folgen eines Herzinfarkts. Entgegen den Erwartungen von Francos rechtskonservativem Lager, starken Kräften des Militärs und der Katholischen Kirche gelang es dem jungen König als Juan Carlos I. das Land friedlich in eine Demokratie zu wandeln.


Von allen alten Kolonialmächten klammerte sich das kleine Portugal am längsten, vor allem in Afrika, an die Reste seines ehemaligen Weltreiches. Portugal befand sich seit 1933 in einer Art faschistischer Militärdiktatur unter einem gewissen António de Oliviera Salazar.

Antonio Salazar 1940 
(Quelle: wikipedia 
gemeinfrei Urheber unbekannt)
Dieses Herrschaftssytem dauerte auch nach dem Rückzug Salazars 1968 an. Doch dessen Nachfolger fand keine politische Lösung für die wirtschaftlich ruinösen Kolonialkriege. So kam es, dass in Portugal eine im Grunde faschistische Militärdiktatur ihrerseits durch einen Militärputsch 1974 beseitigt wurde. Aber erst 1976 reformierte sich das Land mit einer neuen Verfassung zu einer modernen parlamentarischen Demokratie.

Mit dem Beitritt zur Europäischen Union begann in einigen Ländern aber geradezu ein Wettlauf, wer die besseren schuldenfinanzierten Sozialleistungen aufbieten kann. In manchen der neuen EU-Mitgliedsstaaten schmachteten die Menschen nach den vermeintlichen Segnungen der EU. Einmal als Beitrittkandidat von der Gemeinschaft aufgenommen, müssen neue EU-Mitglieder zwar einige politische Wohlverhaltensregeln einhalten, dafür winkt die EU allerdings auch mit einem wahren Regen von wirtschaftlichen Segnungen. Vor lauter Beglückung mit neuen Autobahnen, Hochgeschwindigkeitszügen, modernsten Telekommunikationstechniken und einem Immobilienblasen treibenden, vorher so nie da gewesenen günstigen Eurozinssatz, wurde in manchen Beitrittsländern dann allerdings vergessen, die eigenen binnenwirtschaftlichen Leistungen dem sich verschärfenden globalen Wettbewerb anzupassen.

Um so härter wird jetzt die selige Ruhe der 68er-Generation durch die Unbilden von Weltfinanzkrisen gestört. Doch statt endlich dringend benötigte Reformen anzugehen, das von seinem Wohlstand abzugeben, was sich ohnehin nur zu Lasten späterer Generationen angeeignet wurde, verteidigen diese an den Schaltstellen der Macht Sitzenden, einstmals so revolutionär daher Gekommenen, zäh jedes ihrer sozialen Privilegien. Sie regen sich auf, wenn ihnen jemand irgendwie auf den Pelz rückt, schrecken wieder nicht vor Protesten aller Art zurück, wobei sich allerdings die Protestform vom harten Straßenkampf auf das eher häusliche Instrument einer Bürgerinitiative verlagert hat.

Dieser gesellschaftliche Zustand ist ein sehr europäisches Phänomen unserer Zeit. Mit den Enkeln der 68er-Generation, etwa seit den Jahrgängen ab der Jahrtausendwende, wächst jetzt eine junge Generation heran, die aber für die soziale selbstgefällige Selbstbedienung ihrer Großeltern (Motto: „... wenn ich groß bin, will ich auch Spießer werden...“) kein Verständnis mehr aufbringen kann. Gelitten unter einem politideologisch heillos zerrütteten Bildungssystem, gebeutelt von zunehmenden Steuer- und Soziallasten, aufgerieben in einer gnadenlosen globalen Wirtschaftskonkurrenz, vor die Doppelaufgabe gestellt, die eigenen Kinder und möglichweise die eigenen Eltern versorgen zu müssen, ohne jede Hoffnung und Aussicht auf langfristig stabile Arbeitsverhältnisse, auf der verzweifelten Suche nach Ankern wie Traditionen und Riten, werden diese junge Menschen früher oder später auch eine Rebellion anzetteln. Auch dann wird das Ziel dieser Rebellion wieder die Eltern- und vor allem die Großelterngeneration sein. Man kann jetzt nicht sagen wie das Ende der kommenden Rebellion aussehen wird. Aber die heute Mächtigen sollten sich auf die Zukunft ihrer Kinder und Kindeskinder besinnen und endlich die Weichen für eine fortschrittliche Entwicklung stellen, statt weiter in wehleidigem Egoismus zu altern, bis möglicherweise eine Demenz sie noch vor dem Tode gnädig, aber auf Kosten der Jüngeren, hinwegdämmern lässt.

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