Das Menetekel von Ferguson -Erschütterungen der amerikanischen Gesellschaft- von Thomas Seidel

Es war eindeutig eine Hinrichtung. Wer das Video von der Ermordung des 18-jährigen Michael Brown in Ferguson, Missouri gesehen hat, wird kaum Zweifel haben können. Kein Wort, keine Körperhaltung, keine Gestik des jungen Mannes war annähernd bedrohlich genug, um Grund zu sein auch nur einen einzigen Schuss abzugeben. Stattdessen wurde Michael Brown auf offener Straße und vor den Augen vieler beteiligter Zeugen mit zwölf Kugeln beschossen, von denen sechs trafen. Die ganze Szene macht den Eindruck einer bewussten Machtdemonstration der Polizei von Ferguson gegenüber der farbigen Bevölkerung, in Form einer öffentlichen Hinrichtung.

Öffentliche Hinrichtungen als Warnungen bewaffneter Kräfte an die eigene Bevölkerung? Seltsam das mit nur wenig zeitlichem Abstand andere selbsternannte Ordnungskämpfer, im Irak die angeblichen Gottesstaatskrieger der ISIS und im Gaza-Streifen die Terrorgruppe Hamas, ebenso öffentlich und provokant, als Warnung Menschen hinrichteten. Freilich im Nahen und Mittleren Osten handelt es sich um bereits seit langer Zeit völlig zerrüttete Gesellschaften. Im Fall von Ferguson, Missouri um einen Bundesstaat der Führungsmacht der westlichen Welt. Kaum zu glauben, aber gibt es da vielleicht doch Parallelen?

Nach nächtelangen Protesten, vor allem Afroamerikanischer Bürger in Ferguson und anderswo in den USA, treten nun Gegendemonstranten zu Gunsten der überwiegend von Weißen gestellten örtlichen Polizei auf. Eine Spendensammlung zur Verteidigung des mutmaßlichen Todesschützen Darren Wilson hat schon einen sechsstelligen Betrag ergeben. Nach einer kurzen Schockstarre beginnt die weiße Bevölkerung sich also zu wehren und unterstützt ihre Sicherheitsprotagonisten. Eine weitestgehend hilflose lokale und bundesstaatliche Politik hat, außer Appellen und der Entsendung von paramilitärischen Einheiten in Form der amerikanischen Nationalgarde, nichts zur Lösung des Konflikts beizutragen. Das Justizsystem scheint völlig abgetaucht zu sein, bis jetzt hört man weder etwas von einer konkreten Verhaftung, oder von einer Anklage, oder einer sonstigen substantiellen Reaktion der Rechtsbehörden.

Rembrandt: Das Gastmahl des Belsazar ca. 1635-1638.
(Quelle: wikipedia. Original: National Gallery., London)
Dem babylonischen König Belsazar wird bei einem gotteslästerlichen Gelage durch eine schreibende Hand der eigene Untergang angekündigt "Mene mene tekel u-parsin".  Etwa: Die Tage Deiner Königsherrschaft sind beendet. Du wurdest gewogen und für zu leicht befunden. Zerteilt wird Dein Königreich. 

Was zunächst wie ein unglücklicher lokaler Einzelfall aussieht, spiegelt die Situation in Ferguson aber in Wahrheit ein Menetekel wider, das bereits seit einiger Zeit über den USA hängt. Seit der Wahl des ersten farbigen Präsidenten Barack Obama existiert in Amerika ein politischer Gestaltungsstillstand. Dieser wird vor allem hervorgerufen durch den erbitterten Widerstand der Republikanischen Partei und insbesondere ihrer Sonderbewegung „Tea Party“ gegen jede präsidiale Gesetzesvorlage. Seien es die Reformen im Gesundheitswesen, sei es in Fragen der Einwanderungspolitik, sei es bei der dringend notwendigen Kontrolle über den persönlichen Waffenbesitz und natürlich immer gegen jedwede präsidiale Haushaltsvorlage, diese geradezu ideologische Blockadehaltung ist nur ein Symptom eines längst eingetretenen Zersetzungsprozesses der amerikanischen Gesellschaft.

Wandel in der Bevölkerungsstruktur
Im allgemeinen Berichtserstattungsfuror über die Ereignisse von Ferguson ist leider eine sehr wichtige Nachricht untergegangen die mehr als nur belegt, was den USA in den kommenden zwei Generationen wirklich droht. Erstmals mit Beginn dieses neuen Schuljahres 2014/15 werden in den USA mehr Kinder von Farbigen, Einwanderern etwa aus Asien und vor allem von Latinos eingeschult werden, als Kinder von alteingesessenen weißen überwiegend protestantisch-evangelikalen Eltern.

Historisch völlig falsch aber für die amerikanische Mythenbildung beliebt, beginnt im allgemeinen Bewusstsein der Bevölkerung die nationale amerikanische Geschichte mit der Landung der Mayflower am 21. November 1620 in der Nähe von Cape Cod und der anschließenden, ab März 1621 beginnenden, Besiedlung eines neuen Plymouth im heutigen Bundesstaat Massachusetts. Jene Siedler später erst als die Pilgerväter bezeichnet, gehörten allesamt einer radikalen Gruppe der ohnehin schon radikalen englischen Puritaner an. In England hatten sich die Puritaner als eine Sekte nach evangelisch reformierten und calvinistischen Vorbildern ausgebildet. Sie traten für eine Reinigung (daher der Name von engl. to purify, das heißt reinigen) der Gesellschaft von der katholischen Kirche und deren Lehre ein. Selbst in ihrem längst nicht mehr katholischen Heimatland England galten die Puritaner im 17. Jahrhundert bereits als Politisch Verfolgte. Das war letztlich auch der Grund für ihre Auswanderung in „Gottes eigenes Land “ nach Amerika. Der Mythos im populistischen amerikanischen Geschichtsbewusstsein und vor allem der bislang mehrheitlich englischsprachigen weißen protestantisch-evangelikalen Bevölkerung ist, dass die Besiedlung des nordamerikanischen Kontinents, die Loslösung der englischen Kolonien vom Mutterland, die Gründung der Vereinigten Staaten von Amerika, die Verfassung derselben, das Justizsystem und seine Rechtssprechung und die politische Gestaltung des Landes letztlich auf die von den Gründervätern erbrachten Mühen zurück zu führen sind. Mit anderen Worten, Amerika wurde und wird beherrscht und gestaltet, von den idealisierten Nachfahren jener weißen englischsprachigen protestantisch-evangelikalen Bevölkerungsschicht, deren Ursprung bis in die ältesten Tage aus den Zeiten der Mayflower zurück reicht.

Robert W. Weir: Die Einschiffung der Pilgerväter 1844
(Quelle: wikipedia, Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika)

Das Menetekel ist, das diese etablierte Vorherrschaft nun endgültig, wenn auch langsam, ihrem Ende entgegen geht. Im Laufe der nächsten zwei Generationen, also über einen Zeitraum von etwa sechzig Jahren, wird diese weiße englischsprachig protestantisch-evangelikale Gestaltungsmehrheit wegkippen. An ihrer Stelle entsteht eine gemischtrassige, vielsprachige, multikulturelle und vor allem überwiegend katholische Bevölkerungsmehrheit. Das ist ziemlich genau das Gegenteil dessen, was die Gesellschaft der USA bisher ausmacht. Noch dazu wächst vor allem durch die Latinos ausgerechnet die Anzahl der katholisch Gläubigen, jene Religion vor dem die Pilgerväter einst so entschieden geflüchtet waren und viele von ihnen diese Flucht einstmals mit ihrem Leben bezahlten.

Es ist jedoch keineswegs so, dass die bisherige Gestaltungsmehrheit diesen Einflussverlust so einfach hinzunehmen bereit ist. Schon die Präsidentschaftswahl Obamas und die bereits in seinen Vorwahlkämpfen sich abzeichnende Radikalisierung der Republikanischen Partei, deutete ein entschiedenes Aufbäumen der Pilgerväter-Nachfolger gegen jede sich abzeichnende Änderung ihres gesellschaftlichen Status an. Verbunden mit diesem Status ist die, dem protestantisch-evangelikalen eigene Vorstellung vom Wirtschaftssystem des Kapitalismus. Nur in der protestantisch-evangelikalen Ausprägung des Christentums gilt wirtschaftlicher Erfolg und die Anhäufung von großem Kapital als gottesfürchtig. Die wirtschaftlich Erfolgreichen werden als Gesegnete betrachtet, während die Erfolgslosen gleichsam als gerechterweise zu irdischen wie jenseitigen Fegefeuern verdammt sind. Diese wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Vorstellungen und die daraus über die letzten drei Jahrhunderte abgeleiteten Denk- und Handlungsweisen haben zu einer, dem Protestantisch-Evangelikalen entgegen kommenden Gesetzes- und Rechtssprechungspraxis geführt. Infolge dessen kam es, über alle Krisen hinweg zu einer immensen Anhäufung von Kapital in den Händen Weniger, in der jüngsten Zeit, während und seit der Finanzkrise, sogar unter Auszehrung auch des eigenen weißen Mittelstandes. Sich allerdings darin vom verhassten Katholizismus in nichts unterscheidend, versucht das kapitalstarke Establishment seit jeher den Gang der Politik ausschließlich im Sinne seiner eigenen Interessen zu beeinflussen.

Was Amerika genau bevorsteht bleibt zunächst ungewiss. Klar ist, dass die Gesellschaft schon lange zutiefst gespalten erscheint. Die Politik, in Form von Kongress und Präsident, hat bereits seit Jahrzehnten lediglich nur mehr eine pseudodemokratische Legitimität. Der Grund ist, dass sich bei allen Arten von Wahlen immer nur schwerlich kaum mehr als ein Viertel der potenziell wahlberechtigten Bevölkerung zur Stimmabgabe bewegen lässt. So stehen, bei einem annähernden Gleichstand der Wählerstimmen, in Wahrheit kaum mehr als 12,5 Prozent der Wähler entweder hinter der Demokratischen oder der Republikanischen Partei. Keiner der politischen Protagonisten hat für sein Tun und vor allem auch für sein Unterlassen eine breite legitime Mehrheit des Volkssouveräns hinter sich. Eine in der Breite mangelhafte Ausbildung, selbst an amerikanischen Hochschulen, macht die Menschen in Amerika anfällig für jede Art von oberflächlicher Propaganda. Diese wird von gleichzeitig geschickt agierenden aber inhaltlich verdummenden Medien betrieben, deren privatwirtschaftlicher Quotenjournalismus sich, statt kritisch aufklärend nur populistisch einpeitschend, für jede vermeintliche Art von verkaufbarer Sensation und Meinungsseite geradezu prostituierend hergibt. Von genau solchen Medienvertretern muss sich dann auch noch der Rest der Welt anhören, welches Verhalten national und international als politisch korrekt anzusehen ist.

Zunehmende gesellschaftliche Isolation
Die amerikanische Gesellschaft jedenfalls ist mit Waffen, im Vergleich zu der Situation in anderen Ländern extrem gut aufgerüstet. Eine Situation wie in Ferguson kann jederzeit schnell über viele Bundesstaaten hinweg zu weiteren Unruhen eskalieren. Fatale Gerichtsurteile einzelner Bundesstaaten, die etwa die Erschießungen jedweder Personen auf dem eigenen Grundstück per se als Notwehr abtun, eine zunehmende Anzahl selbstgerecht und tödlich agierender Bürgerwehren, deren Verhalten von örtlicher Polizei und Justiz in keine Weise in Schranken verwiesen wird, all das bereitet langsam einen fruchtbaren Boden für große gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen den Bürgern vor.

Dann wird es aber nicht etwa wieder in einer klaren Linie die Nordstaaten gegen die Südstaaten gehen, sondern vielmehr ganz anarchisch Jeder gegen Jeden. Diese schon jetzt üble innenpolitische Gemengelage wird seit den Anschlägen vom 11. September 2001 auf das New Yorker World Trade Center verstärkt, durch eine zunehmend hysterisierende Paranoia gegen Jeden und Alles was aus dem Ausland kommt. Die seit dem Frühjahr offenbarten Lauschattacken amerikanischer Geheimdienste selbst bei sogenannten „befreundeten“ Bündnispartnern werden von amerikanischen Politikern und Behördenleitern gerne auch schon einmal damit begründet, dass etwa deutsche Regierungsmitglieder Kontakte beispielsweise zu Russland haben und damit nach amerikanischer Lesart gleich wieder zu politisch unsichern Kandidaten werden. So jedenfalls werden die USA mit dem Ausland mehr und mehr gesprächsunfähig. Die ohnehin schon weitestgehend isolierte amerikanische Gesellschaft schottet sich weiter und weiter von Außen ab und betrachtet jedweden Ratschlag sogleich als unzulässige Einmischung in die innern Angelegenheiten der USA. Ein Wortduktus den man nur allzu gut etwa aus der Nordkoreanischen Propaganda kennt.

Barack Obama
(Quelle: wikipedia, Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika)


Die USA befinden sich politisch, wirtschaftlich und im gesellschaftlichen Kontext, bereits an der Kante zu einer kaum mehr aufhaltbaren Abwärtsspirale. Wie dem auch sei, die Ablösung der bisherigen weißen protestantisch-evangelikalen Führung durch eine eher multikulturelle und vor allem katholische Gesellschaft ist nicht mehr aufzuhalten. Selbst wenn dieser Prozess einigermaßen friedlich vonstatten gehen wird, das Land wird sich in seinen Grundwerten radikal ändern. Allerdings ausrechnet zu jenem Wertesystem, vor dem dereinst die Pilgerväter unter so viel Mühen und Entbehrungen davon gelaufen sind. Daher ist zu befürchten, dass deren Nachfahren das Terrain nicht kampflos seinen alten und neuen Gegnern überlassen wird. In Ferguson sind wir Zeugen wie sich eine weiße Minderheit sofort und geradezu instinktiv in eine Art Wagenburg zurück zieht. Welche fatalen Auswirkungen eine solche Verhaltensweise dann haben kann, lehrt uns die Geschichte Südafrikas. Bedenken sollten die Kinder der Pilgerväter aber vor allem eins: Jede bewaffnete Auseinandersetzung wird die Wirtschaft des Landes mehr und mehr zerrütten. Angesichts einer kaum mehr bezifferbaren Staatsverschuldung kann sich „Gottes eigenes Land“ gerade dies aber überhaupt nicht leisten. Schneller als gedacht wird die selbst ernannte Führungsmacht des Westens abhängig vom Wohlwollen der Länder sein bei denen es so hoch verschuldet ist. Allen voran der Ideologiegegner von einst, China. Das sind die Risiken, die die Bewahrer der alten Ordnung um jeden Preis einzugehen bereit sind. In ihrem Egoismus könnten sie den Fall einer Nation herbeiführen, die einstmals als Heilsbringer für die Verstoßenen antrat.

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