Die Liberalität erstickt die Freiheit -Ein Essay- von Thomas Seidel
![]() |
Die Freiheitsstatue im Hafen von New York (Quelle: Silke Mertens_pixelio.de) |
Nicht ganz zu Unrecht, gilt die
Freiheit als eines der verletzbarsten Güter der menschlichen
Existenz. Für die Freiheit muss tagtäglich gerungen werden. Nichts
ist im Kleinen wie im Großen permanent mehr Attacken ausgesetzt als
die Freiheit. Stets war und ist die Freiheit strengen
Reglementierungen ausgesetzt, sowohl geistigen wie körperlichen. Die
Freiheit zu tun und zu lassen was man will, wird notwendigerweise
immer dadurch eingeschränkt, wo es die Freiheit Anderer berührt.
Das ist noch am ehesten nachvollziehbar. Dem Zwang sich mit anderen
Menschen zu arrangieren, kann man sich durch den Zug in die
Einsamkeit entziehen. Das geht aber einher mit einem Verzicht auf
gesellschaftlichen Kontakt, ein für fast alle Menschen zu hoher
Preis.
Mehr noch als die Begrenzung der
körperlichen Freiheit, wirkt im Alltag die Einschränkung der
geistigen Freiheit. Zu allen Zeiten scheint und schien von der
Gesellschaft darauf besonders viel Wert gelegt worden zu sein. Ob es
sich um Konventionen in der zwischenmenschlichen Kommunikation
handelt, wie etwa den Regeln der Höflichkeit; ob es um Regeln des
Zusammenlebens geht; ob es die Definition und die Identität einer
Gemeinschaft ist; ob es die Vorstellung von Gut und Böse oder
Richtig und Falsch ist; ob es die Vorstellungen vom Werden und
Vergehen allen Seins sind; selbst nur das Vorbild der Eltern wirkt
prägend auf die individuelle Entwicklung von Vorstellungen und
Gedanken der persönlichen Freiheit.
In den allermeisten Gesellschaften war
und ist Religion die treibende Kraft bei der Entwicklung, Etablierung
und Einhaltung im Setzen geistiger Freiheitsbegrenzung. Dies dient
gleichermaßen dem organisierten Zusammenhalt der Gesellschaften, wie
auch dem Machterhalt herrschender Teile der gleichen Gesellschaft.
Freiheitsbeschränkungen, dass ist ganz deutsch ausgedrückt: Zucht
und Ordnung; scheinen notwendige Übel in einer sich immer dichter
drängenden Menschheit zu sein. Jahrtausendealte Erfahrung lehrt,
ohne solche Einschränkungen droht ansonsten Anarchie.
Historische Entwicklungen
Im Laufe der menschlich
zivilisatorischen Geschichte wissen wir von zwei Völkern, die sich,
weder im Denken noch in der Rede, dem Druck der Freiheitsbegrenzung
beugen konnten und können: Die antiken Griechen waren die einen. Die
anderen sind, was wir in Deutschland etwas wage unter dem Begriff
Angelsachsen verstehen. Den alten Griechen wird immer nachgesagt, man
habe ihnen die Staatsform der Demokratie zu verdanken. Das ist
richtig.
![]() |
Akropolis - Die Ruinen von Athen (Quelle: wikipedia GNU-Lizenz durch Maksim Urheber: Fantasy) |
Es beschreibt aber nicht vollständig die zivilisatorische
Leistung dieses längst untergegangenen Volks. Denn diese Menschen
haben vor lauter Freiheitssinn nicht nur die ersten Grundzüge einer
Gewaltenteilung skizziert, vor allem haben sie mit ihrem Widerstand
gegen die vor zweieinhalbtausend Jahren schier übermächtige
Großmacht Persien Europa, historisch gesehen, zunächst vor einer
Orientalisierung und damit vor einer Despotie bewahrt. Die zog dann
aber doch etwa achthundert Jahre später mit der Christianisierung in
Europa ein und verhüllte die Anfänge antiker griechischer und
römischer Kultur und Zivilisation durch das Dunkel radikaler
religiöser Denkvorschriften.
Eine andere Entwicklung fand auf den
britischen Inseln statt. Dort entstand, in einer seltsamen und
einmaligen Gemengelage aus keltischen Einwohnern, germanischen
Einwanderern wie Angeln, Sachsen und Jüten und ab 1066 einer
normannisch französisch geprägten Oberschicht, ein Volk, wie es so
wohl nur in der relativen Abgeschiedenheit einer Insellage entstehen
kann.
![]() |
Stonehenge (Quelle:Hermann Eberhardt_pixelio.de) |
Diese Leute, erst viel später sich unter Jakob I. (1566-1625)
als Briten bezeichnend, ließen sich schon in den Zeiten des
Hochmittelalters weder das freie Denken, noch die freie Rede gerne
verbieten. Früh losgelöst vom Denken des dogmatischen
Katholizismus, konnten die Briten auch als einfache Bürger zumindest
beim Denken und Reden zunehmend frei agieren. Einen ersten Höhepunkt
erfuhr diese Entwicklung dann etwa bei John Locke (1632-1704). Locke
gilt als der Vater des modernen Liberalismus schlechthin. In seinen
vielfältigen Schriften beschreibt Locke aus dem Naturrecht
abgeleitete Eigenschaften des Menschen und gesteht diesem ein
freiheitliches Existenzrecht zu. Wesentliche Gedankenzüge Locke's
werden dann Eingang in die amerikanische Unabhängigkeitserklärung
und Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika finden.
![]() |
John Locke 1697 Gemälde von Gottfried Kneller (Quelle: wikipedia gemeinfrei) |
Nach Locke wurden von Charles-Louis de
Secondat (1689-1755), bekannter als Baron Montesquieu, die Prinzipien
einer modernen Demokratie beschrieben. Er fügt der von Locke
entwickelten Zwei-Gewalten-Teilung in Executive und Legislative die
Judikative noch als dritte Gewalt hinzu. Die fragilen Gebilde der
Gewaltenteilung sind in ihrem Funktionieren jedoch davon abhängig,
dass gleichermaßen eine fein ausgebildete Machtbalance und der
unumschränkte Respekt einer Bürgermehrheit für die Prinzipien der
Demokratie existieren. Ebenso wichtig erschien dafür im Alltagsleben
die Durchsetzung und Einhaltung strenger Verhaltensregeln auf der
Basis von allgemeinen Moral-, Tugend- und Ehrbegriffen. Als die
wirtschaftlich unabdingbare Grundlage für freiheitliches Denken und
Handeln galten sowohl Locke, Montesquieu und später auch Adam Smith
(1723-1790) vor allem der freie Handel. Sie sehen Menschen, die
freien Handel auch über Staatsgrenzen hinweg betreiben dürfen, als
geschäftlich aneinander gebunden an, und damit tendenziell als eher
freiheits- und friedensliebend.
Gegner von Freiheit und Liberalismus
Wir wissen um die historische und
gesellschaftliche Entwicklung von Gesellschaftssystemen in den
letzten zweihundert Jahren. Die erbitterten Widerstände, die vor
allem die europäischen Monarchien, der Adel und die hohe
Geistlichkeit der demokratischen Entwicklung entgegen gestemmt haben.
Besonders in Deutschland erstickten sie lange jeden Versuch eine
demokratische Gesinnung wachsen zu lassen. Adelsgeschlechter wie die
Hohenzollern und Wittelsbacher, Namen wie die Kaiser Wilhelm I. und
dessen Enkel Wilhelm II., Politiker wie Fürst Bismarck und selbst
bis in die jüngste Zeit hinein deutsche Bischöfe wie Johannes Dyba
in Fulda oder Kardinal Höffner in Köln sind beredte Zeugen für
dogmatische Lehren und Einmischungen dieser Gruppen in die
gesellschaftliche Entwicklung hierzulande.
![]() |
Otto von Bismarck als Bundestagsgesandter in Frankfurt 1858 (Quelle: wikipedia gemeinfrei) |
Doch selbst nach der Zerschlagung alter
Standesherrschaften spätestens nach dem Ersten Weltkrieg, folgten
noch schlimmere Tyrannen wider die Freiheit im Denken und Handeln.
Weltweit können die 1920er bis 1950er Jahre als die Zeit grausamer
Diktatoren bezeichnet werden. Hitler und Stalin stehen dafür zwar an
prominentester Stelle. Nicht vergessen werden, sollen die
gleichzeitige Diktatur von Leuten wie etwa Mussolini in Italien,
Franco in Spanien, Salazar in Portugal, aber auch fernab von Europa
wie etwa Peron in Argentinien. Dazu kommen in der 2. Hälfte des 19.
Jahrhunderts noch weitere Militärdiktaturen, etwa wie die von
Ferdinand Marcos in den Philippinen, Pinochet in Chile, immer wieder
in Brasilien und Argentinien und lange Zeit auch in Griechenland.
Unzählig ist die Anzahl von grausamen Despoten Afrikas, von denen
einer wie Robert Mugabe das Land Zimbabwe seit 1980 nunmehr über 35
Jahre zunächst als Premierminister und dann als Präsident
unangefochten von der Weltöffentlichkeit strangulieren kann. An der
Spitze der Freiheitsunterdrücker stehen jedoch die ideologisch oder
religiös geprägten Gesellschaften. Sie unterjochen ganze Völker.
Die Anzahl deren Individuen gehen in die Milliarden. Ob Nordkorea
oder Kuba, ob China oder der Iran, ob Saudi-Arabien oder jüngst die
Türkei, es ist offensichtlich, der Mehrheit der Menschen wird
jegliche Freiheit verwehrt.
Entwicklungen in Deutschland
Da schaut man gerne auf die scheinbar
paradiesischen Verhältnisse in einem Land wie dem wiedervereinigten
Deutschland. Hier scheint, wie in ähnlichen Staaten der sogenannten
Westlichen Welt, eine weitestgehend ausgewogene Form der Freiheit zu
bestehen. Doch dieser Schein trügt. Zogen sich hier die Maßstäbe
der alten „Zucht und Ordnung“ noch bis in die Mitte der 1960er
Jahre als Nachhall der faschistischen Gesellschaft durch, wuchs mit
den berühmten „1968er“ eine ganz neue Generation heran, die in
jenen Jahren des ausgehenden siebten Jahrzehnts des 19. Jahrhunderts
eine Kulturrevolution vom Zaum brach. Vordergründig ging es den
damaligen Studenten darum, die Verschwiegenheit und Verlogenheit
ihrer Elterngeneration bezüglich der Vorgänge während der Nazizeit
zu durchbrechen. Mit ihrem späteren Durchmarsch durch die
Institutionen, gemeint damit war ihre berufliche Karriere vor allem
als beamtete Staatsdiener und Angestellte im Öffentlichen Dienst,
erhoben diese Ex-Kulturrevolutionäre, selbst in ihrer Gesamtheit
immer nur eine verschwindend kleine Minderheit unter der Bevölkerung,
den Anspruch das deutsche Staatswesen zu liberalisieren.
Liberalismus á la FDP
Bis dahin hatte man in Deutschland
politisch unter Liberalität vor allem das verstanden, was die Freie
Demokratisch Partei (FDP) damit meinte. Die im Schnitt immer nur um
die sechs Prozent der Wählerstimmen gewählte Partei, verstand sich
als politische Lobbyorganisation vor allem für Unternehmen,
selbständige Freiberufler, Akademiker (intellektuellen und
pseudointellektuellen), Beamte, oft des sehr gehobenen Dienstes,
sowie einer eher konservativ denkenden Klientel, die aber aus
ideologischen Gründen nur ungern eine Partei mit einem „C“ für
„christlich“ in ihrer Bezeichnung wählen wollten. Mit dem
wirtschaftsliberalen Parteiprogramm einer FDP wussten die jungen
Wilden der 1968er-Generation allerdings nichts anzufangen. Deren
Vorstellung von Liberalismus hatte vielmehr etwas mit Emanzipation,
Gleichstellung und Minderheitenschutz zu tun. Immer wichtiger wurde
auch das Thema Ökologie, Tierschutz, Abrüstung und, ganz wie bei
jeder beliebigen Misswahl, der allgemeine Weltfrieden. Da diese
Vorstellungen von den seinerzeit etablierten politischen Parteien
nicht annähernd bedient werden konnten, gründete sich aus den
Reihen professioneller „Gegen-Alles-Protestler“ eine neue Partei,
heute die Grünen.
In den 1970er Jahren zeigte sich die
FDP für allgemeine gesellschaftliche Strömungen durchaus noch
wandlungsfähig. Modische Themen von gesellschaftlichen Randgruppen
wurden aufgegriffen. Das Strafrecht wurde liberalisiert. Schnell
fielen gesellschaftliche Tabus, vor allem im sexuellen Bereich. Der
Schulunterricht mutierte bis heute zur dauerhaften ideologischen
Experimentierstelle indoktrinierter Kulturpolitiker, die ihre zum
Teil absurden Bildungsideen an den wehrlosesten Opfern überhaupt
umsetzen, den Kindern. Durch die zwischenzeitlich stattgefundene
Wiedervereinigung multipliziert sich der bundesdeutsche
Bildungs-Förderalismuswahnsinn inzwischen mal 16 Bundesländern.
Anstatt vor dem Hintergrund zunehmender Globalisierung eine straffe
Vereinheitlichung der Schulbildung anzustreben, ist die Gesellschaft
in Deutschland von verbindlichen Bildungsnormen weiter entfernt denn
je. Den Preis zahlen in jedem Fall die künftigen Generationen.
Doch konnten sich die
Wirtschaftsliberalen der FDP politisch bei weitem nicht so verbiegen,
dass sie auch nur annähernd eine Schnittmenge mit den politischen
Vorstellungen der ökologisch geprägten Grünen hätten bilden
können. Im Gegenteil, bis heute pflegt man eine diffuse politische
Feindschaft, die jede praktische Zusammenarbeit verhindert, wie es
erst jüngst bei der aktuellen Rheinland-Pfälzischen
Regierungsbildung zu beobachten war. Lieber in die Opposition als
auch nur die geringste Zusammenarbeit mit den Grünen.
Die Grünen: Liberalismus als
institutionalisierte Besserwisserei
Die Ursprünge der Grünen Partei
reichen zurück in die 1970er Jahre. In Fortsetzung der
Studentenrevolten der 1968er-Generation entstand in Kreisen junger
Menschen ein diffuses Gefühl sich gegen alle möglichen, nur zu
erahnende, Folgen des etablierten industriellen-kapitalistischen
Wirtschaftskomplex erwehren zu müssen. Vor dem Hintergrund des
Vietnamkrieges und dem allgemeinen Wettrüsten der großen
strategischen Machtblöcke NATO vs. Warschauer Pakt, entstanden
Friedensbewegungen, deren hauptsächliche politische Ausdrucksform
Demonstrationen auf offener Straße waren und bis heute sind. Nur in
Deutschland gesellte sich dazu eine straffe Anti-Atom-Bewegung, die
in Teils recht militanter Art ihre Ablehnung jeglicher atomarer
Nutzung dogmatisierte.
Jürgen Trittin 2012 Ex-Co-Chef der Grünen Plädierte für einen Veggie-Day pro Woche (Quelle: wikipedia CCL, Urheber: Rudolf Simon) |
Daneben traten noch weitere Beschützer auf:
Ganz allgemein Naturschützer, insbesondere Wald- und Baumbeschützer
und Beschützer ganz spezieller Lebensformen wie etwa vom Aussterben
bedrohte Pflanzen und Tiere. Doch nicht nur die Interessen der
angeblich wehrlosen Natur sollten durchgesetzt werden. Ein weiteres
Anliegen waren die Rechte der Diskriminierten. Ausländer, religiös
Verfolgte, Schwerbehinderte, wegen ihrer sexuellen Orientierung
Diskriminierte. Inzwischen zählen zu den Diskriminierten hierzulande
auch Fahrradfahrer, Schwangere und, man kann es sich kaum
vorstellen, ganz normale Familien mit Kindern, übrigens die bei
weitem größte Einzelgruppe der in Deutschland diskriminierten
Menschen. Neben den Bemühungen um soziale Gerechtigkeit und Frieden,
geht es den Grünen ganz allgemein um eine Politik des nachhaltigen
Handelns in der Ökologie und Ökonomie. Allein diese ganzen
Bemühungen betreffen, von Ausnahmen abgesehen, immer nur
gesellschaftliche Randgruppen und so ist es kein Wunder, dass die
Grüne Partei, über alle Wahlen hinweg, im Schnitt immer nur auf
einem Niveau von sieben bis acht Prozent der Wählerstimmen verharrt.
Ähnlich wie die FDP sind und bleiben die Grünen eine
Minderheitenpartei.
Belange der Mehrheit
Eine gesellschaftliche Gruppe wird
allerdings weder geschützt, noch ist sie politisch angemessen
vertreten. Gemeint ist die absolute Mehrheit der arbeitenden oder
rentenbeziehenden Bevölkerung. Diese Gruppen vor allem zahlen
Steuer- und Sozialabgaben und finanzieren mit ihren Mitteln zu großen
Teilen überhaupt das gesamte staatliche Gemeinwesen. Jetzt könnte
man ja der Meinung sein, für diese Menschen seien die Gewerkschaften
zuständig. Doch weit gefehlt. Schon von ihren Satzungen her kümmern
sich Gewerkschaften nur um nichtselbständige Arbeitnehmer. Solche
müssen sich zudem in einem Arbeitsverhältnis befinden und in
bestimmten Branchen arbeiten. Selbst dort kümmern sich die
Gewerkschaften auch nur um eine vergleichsweise ganz geringfügige
Klientel, nämlich ihre eingeschriebenen Mitglieder. Die scheinbar
breite Wirkung der Gewerkschaften wird in Deutschland durch das
Instrument der sogenannten Flächentarifverträge erzielt. So
entsteht der falsche Eindruck, Gewerkschaften würden die Interessen
breiter Bevölkerungsschichten abdecken. Eine Korrektur dieses
falschen Bildes entsteht immer nur dann, wenn besondere
Einzelgewerkschaften, wie etwa die Gewerkschaft der Eisenbahner oder
der Flugpiloten, oder des Kabinenpersonals von Airlines, ihre
Interessen mittels eines Streiks durchzusetzen versuchen und aufgrund
ihrer Schlüsselfunktion im öffentlichen Leben, damit gleich
hunderttausendfach ganze Tagesabläufe durcheinander bringen. Schon
von der Natur der Sache her haben Gewerkschaften jedenfalls keinerlei
Interesse an Arbeitslosen, Arbeitsuchenden, Arbeitsruhenden (Renter
und Pensionäre) und sozial Hilfsbedürftigen.
Der Maulkorb für die Freiheit
Man sagt, eines der herausragenden
Merkmale der Freiheit sei, die unumschränkte verbale
Kritisierbarkeit aller möglichen Umstände. Dahinter steht der
Verfassungsgrundsatz der „Freien Rede“. Doch die Wirklichkeit
sieht anders aus. Die einst religiöse und staatliche
Denkindoktrination ist inzwischen längst abgelöst worden, von einem
medialen Maulkorb, der etwas unklar als „political correctness“
bezeichnet werden kann. Wusste man früher ganz genau, wer einem das
Denken vorschrieb, etwa Päpste und Bischöfe, die das heute immer
noch gern tun, staatliche Einheitsparteien oder Propagandaminister,
Despoten oder Revolutionshelden, so konnte man gezielt gegen solche
Personen, Gruppen oder Institutionen vorgehen. Das ist heute ganz
anders. In der vielfältigen, und mittels Internet, insbesondere
anonymen Mediengesellschaft bleiben die tatsächlichen Einforderer
der „political correctness“ meist im Dunkel.
![]() |
Anonymus -Die Maske des Guy Fawkes- (Quelle: tomgrafix / pixelio.de) |
Bezüglich der
offiziellen Politik kann man in Einzelfällen noch bestimmte
Journalisten aus Funk, Fernsehen und Zeitung als solche Einforderer
konkret ausmachen. Sie geben sich mit ihren Fragen, Formulierungen
und Kommentaren gerne als die, in Wirklichkeit nicht existierende,
vierte demokratische Gewalt aus und versuchen so die
Bevölkerungsmeinung zu beeinflussen. Im Bereich der Meinungs- und
Kommentaräußerungen im Internet ist das sehr viel schwieriger
auszumachen. Wer sind diese Leute die anonym andere mobben? Wer sind
diese Leute die über andere anonym einen Shitstorm hereinbrechen
lassen? Wer sind diese Leute, die durch ein „like“ oder „no
like“ anonym über Wohl und Wehe ganzer Existenzen entscheiden? Zum
Rederecht und der unumschränkten Kritisierbarkeit im Rahmen der
Freiheit gehört zwingend die Identifizierbarkeit desjenigen, der
frei spricht und kritisiert. Das Internet ist kein Garant der
Freiheit, sondern einer ihrer schlimmsten Totengräber.
Folgen für die Demokratie
Verschiedene gesellschaftliche
Entwicklungen treffen derzeit unglücklich aufeinander. Die
Liberalisierungen der letzten fünfzig Jahre haben sich vor allem um
die Befreiung von bis dahin gesellschaftlichen Randgruppen und
Minderheiten gedreht. Gleichzeitig entstand ein diffuser Mechanismus
eben genau jede Minderheiten vor Kritik jeglicher Art zu schützen
und möglichst ihre Rechte immer weiter auszudehnen.
![]() |
Norbert Lammert 2014 (Quelle: wikipedia CCL, Urheber: Tobias Koch) |
Vor einigen
Monaten hatte der derzeit amtierende Bundestagspräsident Norbert
Lammert, formal immerhin der zweithöchste Repräsentant des Staates
Bundesrepublik Deutschland, in einer Rede eine Aussage gemacht, die
einen Wertmaßstab für die Qualität einer Demokratie bilden soll.
Danach sei eine Demokratie umso besser, je mehr sie sich darum bemühe
die Rechte von Minderheiten zu respektieren. Das mag zunächst sehr
edel klingen, zeigt aber ein grundlegendes Missverständnis von Herrn
Lammert über die Demokratie. Schon aus ihren frühesten antiken
Anfängen wissen wir, dass eine Demokratie nur dann funktionieren
kann, wenn sich die Minderheiten den Beschlüssen der Mehrheit
beugen. Das mag nicht ausschließen, dass Minderheiten im Einzelfall
eines besonderen gesetzlichen Schutzes bedürfen. Es schließt aber
definitiv aus, dass sich eine Mehrheit den Erfordernissen einer oder
mehrerer Minderheiten zu beugen hätte. Dieses grundlegende
Missverständnis über das Funktionieren einer Demokratie ist heut zu
Tage weit verbreitet unter den etablierten Parteien, nicht nur in
Deutschland, überall in den westlichen Demokratien.
Nach allen Ereignissen in den letzten
fünfzig Jahren und allen Zumutungen, die ein durchschnittlicher
Bürger seit immerhin zwei Generationen über sich und seine Kinder
ergehen lassen musste, scheint in den Augen einer zunehmenden
Vielzahl von Menschen das Maß der Belastungen voll zu sein. Hilflos
den immer gleichen Phrasen der Vertreter von etablierten Parteien
gegenüberstehend, beginnt sich eine eigentlich apolitische
Wählerschicht diesseits und jenseits des Atlantiks mehr und mehr zu
radikalisieren. Die Briten haben dies durch ihre Entscheidung für
den Austritt aus der Europäischen Union kundgetan. Die aus
europäischer Sicht unerträgliche Präsidentschaftskandidatur eines
Donald Trump in Amerika und der Anklang den seine Reden beim Publikum
finden, zeigt, dass auch die demokratischste aller Demokratien vor
Populisten nicht gefeit ist. In Spanien kommt trotz zweier Urnengänge
der Wähler keine Regierung zustande, weil jede Koalitionsmöglichkeit
an der Eitelkeit eines einzigen Politikers abperlt. Die aktuellen
Regierungen in Frankreich und Deutschland scheinen abgewirtschaftet
zu haben. Östliche Länder der Europäischen Union geben sich
zwanglos neuen Nationalismen hin und werden dafür von ihren
Bevölkerungen gefeiert.
Was zunächst vollkommen widersinnig
erscheint, die massenhafte Hinwendung von Wählern zu radikalen und
eher freiheitsbedrohenden politischen Strömungen, ist in
Wirklichkeit Ausdruck eines konkreten Bedürfnisses nach einem
funktionierenden, stramm geregelten Staatswesen, dass die tragende
Säule seiner Steuer- und Sozialabgaben zahlenden Bevölkerung nicht
übermäßig mit einer falschen Rücksichtnahme auf eine inzwischen
doktrinäre Liberalisierung und Minderheitenbevorzugung gängelt. So
hat denn die Liberalisierung seit den 1970er Jahren jede
Ausgewogenheit verloren und ist dabei die Freiheit des Einzelnen zu
ersticken.
Kommentare
Kommentar veröffentlichen