Vom Big Bang zum Brexit -Eine Lecture von Prof. Dr. Catherine R. Schenk Faculty of History University of Oxford-
Das House of Finance an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main (Quelle: Thomas Seidel) |
Die erste Lecture des neuen Jahres an
der Frankfurter Goethe-Universität beschäftigt sich mit den Folgen
der Finanzmarktderegulierung in Großbritannien der 1980er Jahre. Was
in einem großen historischen Bogen betrachtet, als eine Ursache des
Brexit hätte entlarvt werden können, verkümmert zu einer
mikroskopischen Detailansicht. Catherine R. Schenk erweist als
Wirtschaftshistorikerin ihrer Fakultät einen Bärendienst.
Wenngleich von der breiten
Öffentlichkeit so nicht wahrgenommen, war der 27. Oktober 1986 für
die weltweite Finanzwirtschaft einer der wichtigsten Tage in der
jüngeren Geschichte. Der Tag wurde unter dem Begriff „Big Bang“
bekannt, was im Deutschen soviel bedeutet wie „Der große Knall“.
An diesem Tag trat in Großbritannien eine Deregulierung der
nationalen Finanzmärkte in Kraft. Rückblickend kann man heute mit
Fug und Recht behaupten, mit diesem Tag entwickelte sich der
Finanzplatz London nach und nach zu einem der wichtigsten in der Welt
überhaupt. Dieser Tag veränderte aber auch die gesamte
Wirtschaftsstruktur der Vereinigten Königreichs, von einer
schwerindustriellen Produktionswirtschaft hin zu einer
finanzmarktorientierten Dienstleistungswirtschaft. Damit einher
gehend, verlagerte sich der Schwerpunkt des nationalen britischen
Wirtschaftsgeschehens weg von der Kohle- und Stahlindustrie der
Provinzen im Norden des Landes, hin zu den geschniegelten
Anzugträgern des Londoner Bankenviertels im Süden. Schon hierdurch
zeichnet sich exakt die spätere Grenze zwischen den
Brexit-Befürwortern und Brexit-Gegnern ab. Will man also den Brexit
verstehen, muss man sich zunächst mit dem Big Bang beschäftigen und
dazu muss man sich zurück begeben in die 1970er Jahre.
Keine Frau ohne männliche Begleitung? Catherine R. Schenk (r.) wird eingeführt (Quelle: Thomas Seidel) |
Das England der 1970er Jahre ist heute
den meisten Menschen vor allem als „groovy“ bekannt. Das Wort
beschreibt ein Gefühl etwa von Mode und Kunst, mit der das Land
junge Menschen weltweit begeisterte. Es waren die Zeiten der
Modemacherin Vivian Westwood, von Twiggy, von Minirock, Schlaghosen,
Hotpants, den Rolling Stones, Eric Clapton, Queens, David Bowie, den
Hippies und vor allem der langen wild wachsenden Haare, überall. Das
Kapital für alles lag in den Händen weniger reicher Leute und
Institutionen, einen freien Kapitalmarkt mit Zugang für Jedermann
gab es nicht. Doch gleichzeitig war dieses England wirtschaftlich
schwer angeschlagen. Man könnte es ohne weiteres als das
Griechenland der 1970er Jahre bezeichnen. Offiziell regiert wurde das
Land von der sozialistischen Labour-Party. Doch in Wirklichkeit
herrschten die mächtigen Gewerkschaften der Bergarbeiter und der
Stahlkocher. Absurde Lohnforderungen führten zu einer hohen
Inflation, Streiks legten die Wirtschaft lahm, der Staat war stark
verschuldet. Dermaßen abgewirtschaftet, fiel das Land 1979 den
Konservativen in die Hände, geführt von der Dame Margaret Thatcher.
Die später als „Eiserne Lady“ bezeichnete langjährige
Premierministerin wusste, die schlechte Lage des Landes konnte nur
verbessert werden, wenn es ihr gelang, die Macht der Gewerkschaften
ein für alle mal zu brechen.
Der Big Bang hatte Folgen wie die Statistik zeigt (Quelle: Thomas Seidel) |
Persönlich verunglimpft, öffentlich
angepöbelt, politisch harsch attackiert, setzte Margarete Thatcher
gegen alle Widerstände gewaltige Reformen am Arbeitsmarkt durch und
brach die Macht der Gewerkschaften in dem Land wirksam bis heute. Sie
betrieb eine stark monetaristische Wirtschaftspolitik und
privatisierte Staatsunternehmen, ja sie begann das Land regelrecht zu
deindustrialisieren. Niemals mehr sollte eine Arbeiterschaft aus
Liverpool oder Birmingham den Ton angeben. Als Alternative bot sich
der Aufbau einer smarten Dienstleistungswirtschaft an und hier
insbesondere der Finanzsektor. Der befand sich in feiner exklusiver
Hand von Bankern, Brokern und Jobbern. Doch auch dieses Geschäft
stand unter Druck.
Nach dem Zusammenbruch der
Weltwirtschaftsordnung von Bretton-Woods hatten die Amerikaner schon
1975 im sogenannten US-MayDay ihren Finanzsektor liberalisiert und so
den gesamten Markt mit Eurobond-Anleihen an sich gezogen. Es bestand
Handlungsbedarf und tatsächlich setzte die Thatcher-Regierung die
nationale Finanzindustrie unter Druck, ihr gemütliches Geschäft zu
Gunsten von Wettbewerb aufzugeben. Genau hier setzt Catherine R.
Schenk mit ihren Ausführungen an und fokussiert sich dabei fast
ausschließlich auf einen Faktor, die Liberalisierung der
Handelsgebühren für Wertpapiergeschäfte. Natürlich hat Schenk
recht, wenn sie sagt, dieser Teil der Liberalisierung wurde gegen
erheblichen Widerstand der nationalen Finanzindustrie politisch
durchgesetzt. Doch zum Verständnis der Konsequenzen aus dem Big Bang
reichen weder diese Erklärung, noch die gezeigten Statistiken aus.
Auch scheint Schenk sich mit anderen Aspekten der
Finanzmarktderegulierung nicht auseinander gesetzt zu haben. Der
Autor dieses Artikels war genau zum Zeitpunkt des Big Bang bei einer
britischen Bank beschäftigt und kann aus eigener Sicht bezeugen, was
dort im Vorfeld passierte. Die Banken haben sich akribisch auf diesen
Moment vorbereitet. Sie warteten nur darauf, endlich vor allem mit
derivaten Finanzprodukten los legen zu können, wie es sie bis dahin
auf der Welt noch nicht gab. Man war froh über die neuen
Handlungsmöglichkeiten und gierig auf die erhofften Gewinne.
Eine wahre Aussage zum Big Bang (Quelle: Thomas Seidel) |
Infolge dessen explodierte das
Finanzgeschäft in London und es begann der Run des Investmentbanking
der 1990er und 2000er Jahre, wie man es in jüngster Zeit erlebt
hatte. Für Großbritannien bedeutete das eine gewaltige
gesellschaftliche Veränderung. Während millionenschwere Neureiche
in London und allgemein im Süden des Landes rauschhaft eine Party
nach der anderen feierten und das Geld regelrecht verpulvert wurde
wie Feuerwerk, verarmte die Provinz und insbesondere der Norden auf
das Bitterste. Während Wales und Schottland sich Sonderrechte
verschaffen konnten und mit Land und Leuten im Tourismus begannen
gutes Geld zu verdienen, verwandelten sich die, zu Zeiten des Empire
stolzen, Zentren der Schwerindustrie des Nordens in verarmte,
trostlose Gegenden. Der Monetarismus und die Liberalisierung einer
Margarete Thatcher haben im Kern ein ruiniertes Land hinterlassen.
Großbritannien hat keine nennenswerte Schwerindustrie mehr, es kann
nicht einmal als Atommacht eigene Kriegsschiffe bauen und wenn doch,
sind diese selbst neu schon leck geschlagen. Die einstmals
reichhaltige Autoindustrie ist fast vollständig in ausländischer
Hand, so wie viele andere Industrien auch. Die britische Industrie
kann als ausverkauft an Ausländer gelten. Was an öffentlicher
Infrastruktur privatisiert wurde, funktioniert nur noch holprig und
ist marode, wie die Eisenbahn und der öffentliche Nahverkehr. Das
Gesundheitswesen ist extrem kostspielig aber gleichzeitig uneffektiv.
Jetzt, wo die letzte Finanzkrise auch den Finanzsektor stark
angefressen hat und der Staat marode Banken mit Milliarden retten
musste, gibt es keine alternativen Industriezweige, auf die sich eine
Konjunktur vielleicht stützen könnte.
Catherine R. Schenk verliert sich zu sehr in Details (Quelle: Thomas Seidel) |
Doch die Schuld an den Zuständen wurde
von den betroffenen Menschen mehr und mehr einer anonymen Bürokratie
der Europäischen Union in die Schuhe geschoben, als den eigenen
Politikern.
Um sein eigenes klägliches politisches
Versagen zu vertuschen, hat der ehemalige Premierminister David
Cameron die britischen Bürger im Juni 2016 über einen Austritt aus
der Europäischen Union abstimmen lassen. Die Stunde der Rache für
die vergessene Provinz war gekommen. Eine Mehrheit der ländlichen
Bürger stimmte für den Austritt, in dem Glauben die guten alten
Zeiten des längst untergegangenen Empire werden wohl wieder kommen,
wenn man nur über sich selbst bestimmen könne. So war der Big Bang
der Anfang einer hoffnungsvollen Entwicklung für Wenige, an dessen
Ende der Brexit als Enttäuschung von Vielen steht.
Hätte Catherine R. Schenk diese
Zusammenhänge aufgezeigt, sie hätte eine glänzende Lecture
abhalten können. Doch hielt sie sich lieber mit kleinteiligen
Details auf. Ein großer Wurf ist ihr gründlich misslungen. Keine
Sternstunde für die Goethe-Universität in Frankfurt. Leider!
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