Regieren in Demut und Sachlichkeit -Angela Merkel als Kanzlerin- von Thomas Seidel


Die letzten Landtagswahlen in Bayern und Hessen haben deutlich gemacht, große Bevölkerungsteile Deutschlands baden sich geradezu in Hass auf die amtierende Bundeskanzlerin Angela Merkel. Demoskopische Untersuchungen haben mehrfach gezeigt, besonders Männer älter als Fünfzig und in ihrem Leben eher weniger erfolgreich, machen die Kanzlerin gerne für alle Probleme verantwortlich, selbst dann und da wo gar keine sind. Es ist an der Zeit, diesen Leuten die Realität vor Augen zu halten.

Angela Merkel Juli 2010
(Quelle: wikipedia, CCL, Urheber: Armin Linnartz)
Elemenierung des Anden-Pakts
Ganz im Sinne von Machiavelli galt es zu Beginn der Kanzlerschaft Angela Merkels zunächst die innerparteilichen Gegner als solche zu eliminieren. Bereits 1979 hatte sich innerhalb der CDU eine Gruppe junger Politiker auf einem Flug von Caracas nach Santiago de Chile zunächst scherzhaft zum sogenannten Andenpakt zusammen geschlossen. Man bildete eine Seilschaft innerhalb der CDU und sicherte sich gegenseitig Loyalität zu. Zu den heute noch prominenten Mitgliedern dieses innerparteilichen „Geheimbundes“ zählten beispielsweise Roland Koch (später einmal Hessischer Ministerpräsident), Christian Wulff (später einmal Bundespräsident), Matthias Wissmann (später einmal Bundesverkehrsminister und dann Verbandspräsident der deutschen Automobilindustrie), Günther Oettinger (später einmal Baden-Württembergischer Ministerpräsident und heute wechselhafter EU-Kommissar für Irgendwas), Volker Bouffier (später einmal Hessischer Ministerpräsident) und eben Friedrich Merz (später einmal verdrängter Fraktionsvorsitzender der CDU im deutschen Bundestag).
Allesamt kann man heute als Beispiele für eben jene Männer über Fünfzig heran ziehen, die in ihrem Leben eher weniger erfolgreich sind, wenn nicht gar in ihren Ambitionen als vollständig gescheitert betrachtet werden können. Alle diese CDU-Politiker sind mehr oder weniger direkt oder indirekt durch Angela Merkel in ihren Machtambitionen eliminiert worden. Allein Friedrich Merz, der sich oberflächlich zunächst gänzlich aus den politischen Schusslinien zurück gezogen hatte, macht sich heute sofort wieder Hoffnungen auf ein großartiges Comeback, zumindest zunächst als CDU-Parteivorsitzender.
Was diese eliminierten Leute wahrscheinlich sogar als persönlichen Affront betrachten, nämlich von einer bis dahin eher unbekannten Provinzfrau beiseite geschoben worden zu sein, hatte Helmut Kohl zu Beginn seiner Amtszeit als Bundeskanzler nicht viel anders gemacht. Damals hiessen die innerparteilichen Gegner Kurt Biedenkopf (später einmal Sächsischer Ministerpräsident) und Heiner Geißler (später einmal zeitweise CDU-Generalsekretär) und vor allem Franz-Josef Strauss (später einmal Bayrischer Ministerpräsident). Tatsächlich war Helmut Kohl die ersten zwei Legislaturperioden seiner quälend langen Amtszeit de facto nicht handlungsfähig, bis sein erbitterster innerparteilicher Gegner Franz-Josef Strauss schließlich 1988 verstarb. Strauss, der sich nicht scheute, Helmut Kohl öffentlich als unfähig für eine Kanzlerschaft zu erklären, ließ keinen Zweifel an seinen eigenen Ambitionen, die allerdings eine breite Mehrheit des gesamtdeutschen Wahlvolkes dann aber doch letztlich beschnitt.
Beide, Helmut Kohl und Angela Merkel, machten mit der Eliminierung ihrer innerparteilichen Gegner nichts anders als machiavellische Politik. Nur dass Angela Merkel aus den Fehlern ihres Vorvorgängers gelernt hatte und viel konsequenter als Kohl jeglichen innerparteilichen Widerstand konsequent brach. Die Installation von manchem unbedeutenden, manchen wichtigen aber extrem loyalen Mitstreitern wie dem langjährigen CDU-Fraktionshöllenhund Volker Kauder, dem lange und immer noch agierenden Peter Altmaier, dem wahrhaft staatsdienenden Thomas de Maiziere und dem stets distanzierten aber der Staatssache verpflichteten Wolfgang Schäuble, sorgte für eine stabile Funktionsbasis zum Durchregieren zumindest mit der CDU. Dieses Rezept funktionierte für lange Zeit in wechselnden Koalitionen und sorgte weitgehend für die politische Handlungsfähigkeit der ersten deutschen Bundeskanzlerin.

Durchstehen der Finanz- und Staatsschuldenkrise
Die Finanzkrise von 2008, die sich äusserlich besonders im Untergang des amerikanischen Bankhauses Lehman Brothers manifestierte, trifft im Europa des €uroraums auf eine bereits vergiftete Atmosphäre. Die europäische Union hat es seit Jahren nicht geschafft, die von Helmut Kohl zu verantwortenden Geburtsfehler der Gemeinschaftswährung zu beseitigen und neben der Einheitswährung eine funktionierende Banken- und Kapitalmarktunion zu etablieren. Schlimmer noch, kaum ein €uroland hält sich an die selbst gesetzten Konvergenzkriterien zur Staatsverschuldung, Deutschland sogar ganz vorne mit dabei.
Schnell wird der €uro zum Gegenstand globaler Spekulationen gegen den €uro. Als mit Griechenland ein Mitgliedstaat, der nie dem €uroraum hätte beitreten dürfen, de facto Pleite ist, brechen alle Dämme. Verbale Garantieversprechen der Kanzlerin und ihres SPD-Finanzministers Peer Steinbrück über die Sicherheit von Spargeldern fruchten nicht. Angela Merkel, die nicht wirklich jemals berufliche Erfahrungen im Wirtschafts- und Finanzbereich hat sammeln können, behält einen kühlen Kopf und zwingt die aufgebrachten Gemüter und Weltuntergangspropheten dennoch zurück zur Sachlichkeit.
Mit einer nie vorher da gewesenen Schnelligkeit verabschiedet der Deutsche Bundestag Gesetzte über Garantieversprechen in Höhe von hunderten von Milliarden €uro quasi im Wochentakt. Hier kommt der Kanzlerin die Zuverlässigkeit ihrer engsten Vertrauten und der Zangengriff auf die eigene Bundestagsfraktion zu Gute. Nahezu ohne wesentlichen Widerspruch werden Stabilitätsmaßnahmen verabschiedet, die insgesamt ein Vielfaches eines Jahresbundeshalts überschreiten. Dennoch hält Angela Merkel öffentlich an der irrigen deutschen Illusion fest, dass die Schulden diverser anderer €uroländer nicht vergemeinschaftet werden. Sichtbar lässt sich Angela Merkel von den Aufgeregtheiten anderer Staats- und Regierungschefs weltweit nicht aus der Ruhe bringen. Ihr ständiges „Nein“ zum vermeintlichen Zugriff auf deutsche Wirtschaftsleistung und Staatsgelder trägt ihr den Spitznamen „Madame No“ ein. Die Kanzlerin nimmt es gelassen.

Angela Merkel im Deutschen Bundestag 2014
(Quelle: wikipedia OTRS, CCL, Urheber: Tobias Koch)
Einleiten der Energiewende
Das populär ursprünglichste Kernthema der Grünen Partei war von Anfang an der Widerstand gegen die Nutzung der Kernenergie. Doch selbst in ihrer Koalition auf Bundesebene zusammen mit der SPD unter Kanzler Gerhard Schröder vermochten es die Grünen nicht, in Sachen Atomenergie eine entscheidende Änderung herbei zu führen. So ging es auch zunächst unter den Kanzlerschaften von Angela Merkel weiter. Die promovierte Physikerin wusste dennoch ganz genau, welche Probleme mit der Energiegewinnung aus der unnatürlichen Kernspaltung einher gingen. Es ist gut vorstellbar, dass Angela Merkel in ihrem Herzen zeitlebens schon eine Atomkraftgegnerin gewesen ist, aber stets klug genug war, dies vor dem Hintergrund der politischen Tatsachen geschickt zu verbergen.
Dann, im März 2011, geschah die bis heute größte Katastrophe der zivilen Atomenergie-Nutzung, die Nuklear-Katastrophe von Fukushima in Japan. Die Kanzlerin, die während ihrer Amtszeit immer ein sehr gutes Gespür für seltene politische Möglichkeiten bewies, erkannte wohl, dass sich nur für kurze Zeit ein Fenster aufgetan hatte, endgültig in Deutschland den energiepolitischen Ausstieg aus der Atomkraft-Nutzung einzuleiten. Zu diesem Zeitpunkt konnten selbst mächtige Bosse der Energiewirtschaft es nicht ernsthaft wagen, einen solchen Beschluss öffentlich zu bekämpfen. Schon gar nicht die Abgeordneten der regierungstragenden Parteien in Bund und Ländern. Jetzt noch laut für die Atomkraft in Deutschland zu werben, wäre einem politischen Selbstmord gleich gekommen. So standen die Zeichen günstig, eine 180-Grad-Kehre zu wagen und den Atomausstieg gesetzlich zu verankern. Ohne zu zögern änderte die Kanzlerin quasi über Nacht ihre öffentliche Überzeugung und nutzte geschickt dies Chance, die in ganz Deutschland unbeliebte Atomenergie los zu werden. Dass Angela Merkel ganz nebenbei den Grünen das Kernthema ihrer politischen Daseinsberechtigung stahl, war sicher nicht nur ein amüsanter Nebeneffekt. Einmal ihres ideologischen Herzen beraubt, begannen die Grünen zu realisieren, dass man einen Staat nicht nur mit einem politischen Inhalt regieren kann. Von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen, ließ die Kanzlerin, wieder ganz sachlich und unaufgeregt, zu, dass sich die Erwachsen werdenden Grünen und die CDU im politischen Alltag immer näher kamen. Problemlos entstanden in Folge nach Landeswahlen in Baden-Württemberg eine grün-schwarze und später in Hessen eine schwarz-grüne Regierung. Beide in ihren Bundesländern mittlerweile auch von den Wählern geschätzt und erfolgreich.

Flüchtlingskrise
In einer global eng miteinander vernetzten Welt gibt es kein „Ganz-Weit-Weg“ (umgangssprachlich rheinländisch: JWD) mehr, zu keiner Zeit, an keinem Ort und für Niemanden. Inzwischen wirkt es sich eben doch auch in Deutschland aus, wenn „in China ein Sack Reis umfällt“. Die Auswirkungen des Syrienkrieges, eine extrem langfristige Folge einstmals dümmlicher französischer und vor allem britisch-imperialer Kolonialpolitik, führte zu bis dahin nie gekannten Flüchtlingsströmen von kriegsbedingt vertriebenen Menschen nach Europa. In einem beispiellosen Akt humanitärer Hilfeleistung entschied im Spätsommer 2015 die Kanzlerin Angela Merkel, Hunderttausende der aus ihrer Heimat Vertriebenen auch als Asylsuchende nach Deutschland einzulassen. Mit dieser Entscheidung hat die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel für alle Zeiten die internationale Reputation der Deutschen als ein geachtetes, zivilisierte und kultiviertes Volk in der weltweiten Volksgemeinschaft, nach den nicht weg diskutierbaren und immer zu erinnernden Schrecken der Naziherrschaft, wieder hergestellt.
Es war nicht diese Entscheidung zur Grenzöffnung für Hilfesuchende, die das Flüchtlingsthema in der Folge zu einer so dramatischen Spaltung nicht nur der deutschen sondern auch der europäischen Gesellschaften geführt hat und letztlich auch den Rückzug von Angela Merkel aus der Politik einläutete. Es war und ist die Illoyalität und der passive Widerstand vor allem der deutschen Bundesbeamtenschaft, allen voran dem Bundesamt für Migration. Es war und ist die zwanghafte Vorstellung solcher Beamter, die sich dann unglückselig auf einige politische Entscheidungsträger übertrug, nur ein System der kasernierten Überwachung erlaube dem Staat die Kontrolle über Menschen zu behalten, die angeblich einer Gesellschaft mit einer traditionellen Blutlinienabstammungslehre für immer fremd bleiben müssten. Keiner politischen Partei und schon gar keiner deutschen Nachkriegsregierung ist es bis heute gelungen, diesem wilhelminisch-nationalsozialistischen Bullshit-Gedanken ein wirksames Ende zu bereiten. Das ist hierzulande der Nährboden, auf dem die Saat aller Populisten gedeiht.

G8 Gipfel Juni 2007 in Heiligendamm
(Quelle: wikipedia, White House, Urheber: White House Foto: by Eric Draper)
Die Kanzlerschaft der Angela Merkel
Es ist sehr wahrscheinlich, dass die, in einer protestantischen Pfarrersfamilie aufgewachsene, junge Angela bereits dort und als Kind diesen so typischen protestantischen Humanismus vermittelt bekam, wie er von einem John Locke entwickelt wurde und der später so prägend für die Grundlagen beispielsweise der amerikanischen Verfassung wurde. Verbunden hat sich das vielleicht mit den besten Tugenden alter preussischer Strukturen, die ganz im Sinne des alten Preussenkönigs Friedrich II den König selbst als den „Ersten Diener“ seines Staates verstand.
Männer, so zeigt die Geschichte schmerzhaft an unzähligen Beispielen, verbinden Herrschaft zu allererst immer mit tosendem aufgeblasenen Statusgetue, ganz wie die Gockel im Hühnerstall. Ihnen geht es immer und zu allererst um ihre Selbstdarstellung und dann erst im zweiten Schritt vielleicht auch mal um die Sache. Aus der jüngeren Geschichte Deutschlands ist der Vorgänger Angela Merkels als Bundeskanzler Gerhard Schröder ein besonders offensichtliches Beispiel dafür. All dieses gockelhafte Getue perlt an Angela Merkel einfach ab. Ganz gleich mit welchen „Staatsmännern“ (oder sollte man besser sagen: Buben) sie zusammenkommt, immer zwingt Angela Merkel sie zur Sachlichkeit. Dafür wird sie weder geliebt noch bewundert, aber spätestens bei zweiten Hinsehen respektiert.
Das Amt eines Bundeskanzlers bzw. einer Bundeskanzlerin ist ein öffentliches Amt, in das man immer nur auf Zeit gewählt wird. Keinesfalls darf eine Kanzlerschaft nur eitlen Selbstdarstellungszwecken einzelner Personen dienen. Angela Merkel hat den richtigen Stil, wie dieses Amt beispielhaft ausgeübt werden sollte, allen vorgemacht: Regieren in Demut und Sachlichkeit.
Wenn denn, wie in den zurück liegenden Monaten in Deutschland und vor allem auch im Ausland immer wieder geschehen, künftig die Grenzen jeder politischen Sittlichkeit ständig nieder gerissen werden, dann kann man für die Zukunft tatsächlich nicht viel Gutes erhoffen. Der angekündigte Rückzug von Angela Merkel aus der Politik, geschieht nicht nur vor dem Hintergrund verlorener Provinzwahlen und einer sich zunehmend spaltenden Gesellschaft. Der Rückzug passiert sicher auch, weil diese Kanzlerin sich von den immer mehr verrohrenden Sitten einiger Politiker mehr als nur angewidert fühlt. Es ist zu befürchten, dass die von Angela Merkel gesetzten Maßstäbe im politischen Umgang miteinander, sehr bald nur noch Makulatur sein werden.

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