Zeit der Katharsis -Gesellschaftliche Auswirkungen der Corona-Krise von Thomas Seidel

Der Schrei von Eduard Munch
(Quelle: wikipedia, gemeinfrei, Eduard Munch 1893)


Schlimm genug, dass eine Seuche wie Corona zehntausende Menschen infizieren kann und in dessen Folge dann Tausende ihr Leben lassen müssen. Wie schnell sich die Natur gegen die hilflose Menschheit wenden und sie weltweit zumindest massiv bedrohen kann, ist eine gänzlich unerwartete Erfahrung der lebenden Generationen. Doch offenbart die Coronaseuche gnadenlos die gesellschaftlichen Schwächen der Zeit, insbesondere auf der ökonomischen und staatlichen und politischen Ebene.

Man kann sehr genau bestimmen, seit wann die modernen Gesellschaften begonnen haben, sich in jene Richtung zu entwickeln, unter der man heute leiden muss. Es ist der 9. November 1989, der Tag des Mauerfalls in Berlin. Auch wenn dieser Tag vor allem einen symbolischen Charakter hat. Seitdem jedenfalls haben sich die gesellschaftlichen Systeme weltweit wesentlich verändert. Die alten Strukturen einer bis dahin weitestgehend bipolaren Weltordnung begannen sich aufzulösen. Auch wenn es damals noch niemand so voraussehen konnte, die Tendenz der Entwicklung ging in Richtung Globalisierung und Freien Handel.

Friedrich August Hayek
(Quelle: wikipedia, CCL,
Urheber: DickClarkMises)
Treiber dieser Ideen waren und sind die Ökonomen westlicher Prägung. Die Verkünder der allheilenden Kraft der freien Märkte hatten über alle gewaltigen Krisen des 20. Jahrhunderts hin scheinbar recht behalten. Marktabschottungen, Kriegswirtschaft und das totale Versagen der kommunistischen Planbewirtschaftung haben die wirtschaftsliberalen Ideen, vor allem des österreichischen Nationalökonomen und Nobelpreisträgers Friedrich August von Hayek und seiner nachfolgenden Anhänger wie etwa Milton Friedman, spät aber um so deutlicher triumphieren lassen.

Jetzt, in den zurückliegenden vier Dekaden, setzte sich die Dominanz der freien Marktwirtschaft und des freien globalen Welthandels endgültig durch. Als oberstes Ziel allen gesellschaftlichen Strebens wurde die Profitmaximierung proklamiert. Der Weg dahin und die Methode der Wahl zur Zielerreichung ist die totale Optimierung von Allem und Jedem. Das ist es, was sich nahezu weltweit in den letzten vierzig Jahren gesellschaftlich zugetragen hat. Was für Amerika und das westliche Europa nicht wirklich neu war, hat sich erstaunlich schnell auch in einem offiziell immer noch kommunistischen China und den Nachfolgestaaten des ehemals kommunistischen Sowjetblocks durchgesetzt. Auch dort herrscht grundsätzlich das gnadenlose Diktat des freien Wettbewerbs und freier Märkte unter dem Dauerberieselungsprogramm der ständigen Optimierung.

Milton_Friedman
(Quelle: wikipedia, CCL,
 Urheber: The Friedman Foundation
 for Educational Choice)
Es konnte politisch vor allem deshalb dazu kommen, weil die Ökonomen als Hauptberater der regierenden Politiker jeden anderen maßgeblich Einfluß auf politische Entscheider nach und nach fast vollständig eliminiert haben. Kein Priester, kein Militär, kein Ökologe und schon gar keine Freidenker können gemeinsam oder gar allein soviel Gewicht in jegliche politische Debatte einbringen, wie allein die Stimmen der ökonomischen Berater.

Wozu hat das geführt? Dem profitorientierten Optimierungszwang ist zunächst einmal jedwede Art von langfristigem, nachhaltigem, strategischen Denken zum Opfer gefallen. In einer Welt, die sich angewöhnt hat, nur noch im Rhythmus von Quartalsberichten zu denken, sind Überlegungen und Planungen mit einem Zeithorizont von über einem Jahr nur noch dann akzeptiert, wenn sie einem absehbaren Profitziel folgen. Diese rein ökonomische Denke hat sich die Politik auch zu eigen gemacht. Genauso sehen dann auch Gesetzgebungsvorhaben von Regierungen aus. Steuerrecht z.B. ändert sich heute im Halbjahrestakt. Langfristige Infrastrukturmaßnahmen lassen sich kaum mehr angehen, da ihre oft nicht sofort erkennbare Sinnhaftigkeit politisch kaum mehr vermittelbar ist.

In der Wirtschaft ist die äußerst sinnvolle langfristige Lagerhaltung fast völlig abgeschafft worden. Die Ökonomen sehen Lagerhaltung als lästige Kapitalbindung. Statt dessen wird heute global „On-time“ irgendwo auf der Welt produziert. Von dort müssen Produkte oder Halbfertigprodukte ebenfalls „On-Time“ da hin geliefert werden, wo sie eben gerade gebraucht werden. Fällt dann ein Glied in der Produktionskette aus, kommt gleich der ganze Herstellungsprozess ins Stocken oder gar zum erliegen. Das gilt inzwischen und insbesondere für Apotheken. Was bitte ist der Sinn von Medikamenten auf den steht „apothekenpflichtig“, wenn man die Präparate nie spontan kaufen kann, weil die Apotheken nur noch den freiverkäuflichen Mist vorrätig halten. Das ist öffentliche Gesundheitsgefährdung! Man hat zu verlangen, dass nach Corona überall wieder eine strategische Lagerhaltung eingeführt wird.

Die Optimierung in der Lebensmittelproduktion hat weltweit Ausmasse angenommen, die in einem Ungleichverhältnis in manchen Ländern zu massiver Überernährung mit entsprechenden Volkskrankheiten führen, während in anderen Regionen für hunderte von Millionen Menschen Armut und Hunger der Alltag sind. Doch wurde diese Optimierung für den Preis einer systematischen Auslaugung und Zerstörung natürlicher landwirtschaftlicher Flächen erzielt. Ohne künstliche Düngung, ohne gezüchtetes Saatgut würden diese zusätzlichen Ernteerträge sofort wieder in sich zusammenfallen. Das heißt, die schiere Anzahl von Menschen hat die Grenzen der natürlichen Ernährungskapazitäten der Welt schon längst überschritten.

Der Optimierungswahnsinn geht schon lange weit über die reinen Produktionsketten hinaus. Es gibt eine gesellschaftliche Erwartungshaltung, dass Menschen sich selbst zu optimieren haben. In einer Welt, in der Wissen und Erkenntnisse nahezu täglich ansteigen, zwingen Ökonomen seit Jahren die Politik dazu, Bildungszeiten zu kürzen, siehe etwa G-8-Abitur. Die Folge: desorientierte junge Menschen die den sprunghaft zunehmenden Anforderungen schon lange nicht mehr gewachsen sind. Sie werden konfrontiert mit einer Berufsrealität, in der es kaum noch unbefristete Arbeitsverträge gibt, Rahmenbedingungen die nicht einmal eine mittelfristige Planung bis zu vier Jahren zulassen. Arbeitsverhältnisse als „On-time“ -Beschäftigung. Man hat zu verlangen, dass Kindern und Jugendlichen massiv mehr Zeit zum Kenntniserwerb gegeben wird und zeitlich befristete Verträge in der Regel als sittenwidrig zu betrachten sind.

Müllberg
(Quelle: wikipedia, gemeinfrei, Urheber: Ropable)
Profitorientiert optimiert wird seit Jahrzehnten vor allem das Kaufverhalten der Menschen. Eine, nicht zuletzt durch moderne soziale Medien, immer zielgerechtere Produktwerbung, suggeriert den Menschen ein Konsumverhalten ein, das zu ständigen kurzfristigen Kaufanreizen verführt und letztlich die „Wegwerf-Gesellschaft“ hat entstehen lassen. Selbst verwertbare Lebensmittel werden vernichtet. Dadurch hat die Produktqualität nachgelassen. Schlimmste Branche neben den systematischen Lebensmittelvernichtern ist dabei die „Fast-Fashion-Industrie“. Gab es noch in den 1960er und 1970er nur zwei Modekollektionen pro Jahr, finden diese inzwischen geradezu im Monatsrhythmus statt, wenn nicht noch kürzer („Jede Woche eine neue Welt“). Ähnliches gilt für eine unüberschaubare Anzahl von billigen Produkten allerlei Art, die dann nach kurzem Gebrauch einfach weg geworfen werden. Das gilt selbst dann, wenn einzelne Produkte selbst nie in Gebrauch gekommen sind. Man hat zu verlangen, dass Menschen über ihr Konsumverhalten aufgeklärt werden und jeglicher Anreiz zu einem geistlosen Wegwerf-Verhalten unterbunden wird.

Am Ende häufen sich Müllberge an, die angeblich nicht mehr abgearbeitet werden können und von skrupellos mafiösen Geschäftlemachern irgendwo und irgendwie verklappt werden. Besondere Verursacher solcher Müllberge sind der Handel und die Verpackungsindustrie. Während der Handel Waren gleichermaßen logistisch gut handhabbar, wie verkaufstechnisch ansprechend in die Regale gestellt haben möchte, ist die Verpackungsindustrie auch noch stolz darauf, jede noch so absurde Verpackungsidee- und Vorschrift umsetzen zu können. Dem abzuhelfen braucht es eine Regel, wonach jeder Verbraucher jede Verpackung mit einer Hand und ohne Zuhilfenahme von Werkzeugen öffnen können muss. Weiter müssen Behörden teilweise absurde Verpackungsvorschriften bereinigen. Schließlich muss der Handel mehr Personal beschäftigen, um Waren verkaufsfertig einzusortieren. Man muss verlangen, dass eine Politik betrieben wird, die jede Art vermeidbaren Müll wirksam unterbindet.

Es wird Argumente geben, die behaupten, die profitorientierte Optimierung habe Waren für die breite Masse überhaupt erst bezahlbar gemacht. Man habe in den zurückliegenden Jahrzehnten die weltweite Lebensmittelversorgung drastisch erhöht. Es seien Millionen Arbeitsplätze entstanden, die es so vorher nicht gegeben habe. Man habe die durchschnittliche Lebenszeit der Menschen um viele Jahre verlängern können. Man habe den Menschen insgesamt zu mehr Wohlstand verholfen, als es dies jemals in der Geschichte der Menschheit gegeben habe.

Coronavirus
(Quelle: wikipedia, gemeinfrei in den USA,
Urheber: https-//phil.cdc.gov/Details.aspx?pid=23312)
Die Corona-Krise macht deutlich, all das ist letztlich nicht belang. Ein Virus zeigt den Menschen die ökonomische Bedeutungslosigkeit ihres individuellen Daseins auf. Man wird wohl Corona in den nächsten Wochen oder Monaten medizinisch „in den Griff“ bekommen. Aber jetzt, in den Tagen globaler shut-downs und landesweiter Ausgangssperren, jetzt ist die Zeit für eine geistige und gesellschaftliche Katharsis. Wann wenn nicht jetzt müssen die Menschen begreifen, dass sie mit der bisherigen verschwenderischen Lebensart so nicht weiter machen können. Sie müssen begreifen, dass der Weg der liberalen profitorientierten Optimierungszwangsgesellschaft nicht mehr in die Zukunft führt, sondern in einen globalen gesellschaftlichen Abgrund. Man muss verlangen, dass nichts mehr hergestellt und verkauft, dass nicht nachweislich natürlich und nachhaltig ist. Ja, das wird eine schmerzhafte Umkehr. Ja, das wird Kosten des täglichen Lebens in die Höhe treiben. Ja, das wird Arbeitsplätze vernichten. Ja, das wird die Lebensvorstellung- und planung von ganzen Generationen ändern.

Corona führt drastisch vor, wie einfach es für die Natur es, sich eines Störenfrieds schnell zu entledigen. Schon morgen kann eine Virenvariante innerhalb kürzester Zeit die Existenz aller Menschen endgültig bedrohen. Vor den Augen der Natur ist der Mensch nur eine Spezies unter vielen. Man muss verstehen: Der Mensch braucht die Natur, doch die Natur braucht den Menschen nicht!

Das Jüngste Gericht von Michelangelo 1475-1564
(Quelle: wikipedia, gemeinfrei, Sixtinische Kapelle Vatikan)

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