Eine Rentenreform ist langfristig wichtiger als die Coronahilfen -von Thomas Seidel-

Ohne Rentenreform droht dieses Schicksal später der heutigen Generation
(Quelle: Google, Tagesspiegel)

In diesen Tagen wird mit gewaltigen Geldbeträgen hantiert, um sich gegen die Folgen von allerlei Krisen zu stemmen. In den Hintergrund tritt dabei ein Problem, das alle Staatshaushalte sehr leicht auf Dauer aus dem Gleichgewicht bringen kann. Es sind die ungelösten Fragen eines dringend reformbedürftigen Rentensystems.

Das staatliche Altersversorgungssystem (Gesetzliche Rentenversicherung) von 1891 ist mit Fug und Recht eine deutsche Erfindung. Doch wurde sie nicht zum Wohle der arbeitenden Bevölkerung erdacht, sondern diente in erster Linie einer geregelten Versorgung verbrauchter menschlicher Arbeitskräfte der industriellen Gesellschaft.  Die Gesellschaft um 1900 hatte eine einfache Ausgangslage.  Die Menschen blieben oft ortsansässig. Es gab nur geringe Fluktuation. Die Rente begann etwa ab 65 Lebensjahren. Die Lebenserwartung war niedrig. Statistisch starben die Männer nach kaum fünf Renten-Erlebnisjahren.  

Zu Beginn des Rentensystems war kein Geld für Auszahlungen angespart. So wählte man das Umlageverfahren. Das bedeutet, die Renteneinzahlungen der aktiven Arbeitnehmer von heute bezahlen die Leistungen an die Rentner auch von heute. Es wird kein Kapital gebildet. Es wird nichts angespart. Dieses Prinzip gilt immer noch. Die Auszahlungen finanzieren sich zu einem Drittel aus den Beiträgen von Mitarbeitern. Ein Drittel kommt von den Beiträgen der Arbeitgeber. Das letzte Drittel stammt aus Steuergeldern. Dieser Anteil wird allerdings immer größer.

Einen Kardinalfehler hatte das System in Deutschland von Anfang an. Die Rentenversicherung ist bis heute ein Ständesystem geblieben. Ältere, bereits vorhandene Altersversorgungssysteme wurden zunächst weitestgehend belassen. So entstand eine Rentenkasse für den Stand der Arbeiter, den Stand der Angestellten, den Stand der Beamten (de facto nämlich keine) den Stand der Selbständigen (de facto nämlich keine, es sei denn, es gab bereits berufsständische Versicherung wie etwa für Mediziner oder Juristen), sowie eine ganze Reihe von traditionellen Berufen etwa die Knappschaftsversicherungen für die Bergleute oder die Seekasse.  Juristisch und versicherungstechnisch war die gesetzliche Altersversorgung ein Jahrhundertwerk, erdacht für Generationen.

Bis die Politiker vor allem nach dem 2. Weltkrieg auf die Idee kamen, sich mit angeblichen Verbesserungen an der Altersversorgung Wählerstimmen zu erkaufen. Seitdem ist die Altersversorgung Spielball von Parteien und Lobbyisten, bislang vor allem zu Lasten der aktuellen Rentenbezieher. Die Beiträge will man nicht ständig erhöhen. Es geht darum die Arbeitgeber beim Sozialkostenanteil zu schonen. Also senkte man die Leistungen für die Rentner von etwa 75 Prozent auf heute ca. 48 Prozent. Das Ständesystem fördert Ungleichheiten. Im Schnitt beziehen Beamte mehr als doppelt so viel Altersbezüge wie Rentner der privaten Wirtschaft.

In den letzten 130 Jahren haben sich die Bedingungen für die Altersversorgung in der Gesellschaft allerdings drastisch verändert. Alles ist in Fluss geraten. Erlernter Beruf und tatsächliche Tätigkeiten driften immer öfter auseinander. Man wechselt die Standorte, um überhaupt Arbeit zu finden. Ständig muss man sich weiter qualifizieren. Familiäre Gründe unterbrechen die Beitragskontinuität. Man hat längere Tätigkeitszeiten im Ausland. Eine Kontinuität in der individuellen Einkommenshistorie für rund 45 Arbeitsjahre ist nicht mehr gewährleistet.

Trotz vielfältiger Anpassungen und Reformen, die gesetzliche Rentenversicherung ist zu starr und unflexibel, um mit den dynamischen Veränderungen in der Arbeitswelt zurecht zu kommen. Die Kosten der Altersversorgung nach dem Umlagemodell sind absehbar nicht mehr tragbar. Daher bedarf die Altersvorsorge der Ergänzung aus eigenem versteuerten Nettoeinkommen der Arbeitnehmer. Das ist so für die Arbeitnehmer unzumutbar. Riester- und Rürup-Renten sind nur ein Versuch geblieben und haben nie wirklich Fahrt aufgenommen. Zu intransparent, zu bürokratisch, zu unflexibel.

Auf nationaler Ebene braucht es ein umfassendes Programm zur Altersvorsorge auf mehreren sich ergänzenden Säulen:

  1. Die Abschaffung der Ständeversicherungen. Jeder der Einkommen aus Tätigkeiten erwirbt, muss zunächst in das eine staatliche Rentensystem Beiträge leisten. Auch wenn das bedeutet, dass für geringe Einkommen (etwa bei Selbständigen) gestaffelt niedrigere Beitragssätze vorübergehend angewendet werden müssen.
  2. Es muss einen zentralen Fonds für alle freiwilligen, betrieblichen Altersvorsorgen geben, in den alle Beiträge einfließen, gleichgültig bei welchem Arbeitgeber  man ist. Der Fonds sollte mündelsicher anlegen und von einer vertrauenswürdigen Stelle verwaltet werden, etwa einer Sonderabteilung der Zentralbank. Diese Rentenansparung muss für alle Beteiligten steuer- und sozialabgabenfrei in der Aufbauphase sein.
  3. Es muss jedem Arbeitnehmer möglich sein, Sondereinzahlungen in den Fonds ebenso steuer- und sozialabgabenfrei vorzunehmen. Das muss auch für die Abgeltung von Zeitguthaben zur Rentenansparung in Betrieben gelten.
  4. Die Altersgrenzen für den Renteneintritt müssen viel flexibler gestaltet werden. Das gilt für eine Frührente genauso, wie für eine Spätrente. Warum soll nicht der Einzelne entscheiden, wann man nach einer bestimmten Einzahldauer in Rente gehen will. Der gesetzlich erzwungene Zwangsaustritt aus dem Arbeitsleben muss abgeschafft werden. Der Wunsch nach längerer oder kürzerer Lebensarbeitszeit sollte realisierbar sein. Das geht einher mit der allgemein viel längeren Lebensdauer.
  5. Ganz persönliche Altersvorsorgen wie etwa Kapitalversicherungen, Immobilienerwerb, Fondssparen oder auch nur einfaches Sparen sollte nicht Gegenstand von pauschalen Sozialversicherungsabgaben sein, wenn diese Vermögenswerte nachweislich zur Verrentung genutzt werden.
  6. Vermögensbildungsverträge zum Zwecke späterer Verrentung dürfen nicht Gegenstand von Vertragsvermittlungsprovisionen oder Gebühren sein.
  7. Schließlich darf es nicht zu stichtagsbezogenen Besteuerungen von Wertpapieren kommen, deren Werte ständigen Preisschwankungen unterworfen sind, wenn der Zweck der Wertpapierliquidation auch hier der Verrentung dient.
  8. Das System muss für jeden transparent, verständlich und nachvollziehbar sein. Eine jährliche Information über den Anspruchsstand zu verschiedenen Altern in der Zukunft von allen Versicherungsträgern ist unumgänglich.
Eine Vielzahl dieser Maßnahmen können für einen langfristig planenden Gesetzgeber, politischen Willen vorausgesetzt, ein Leichtes sein. Das bisherige Rentensystem bliebe im Kern bestehen. Die Vermögensabsicherung von betrieblichen und privaten Altersvorsorgen gewönne an Attraktivität und die Menschen könnten mehr Sicherheit und Freiheit bei ihrer ganz persönlichen Lebensplanung gewinnen.

Im übrigen ist es ein Armutszeugnis, dass nicht schon längst auf EU-Ebene daran gearbeitet wird, Regelungen zu finden, die schrittweise und auf lange Sicht zu einem EU-einheitlichen Rentensystem führen würden. Es ist der Politik offensichtlich nicht bewusst, wie viele Menschen bereits heute gezielt ihren Arbeitsplatz auch nach der Frage auswählen, wo sie später einmal die vernünftigsten Rentenansprüche geltend machen können. Nationale Rentensysteme stehen jedenfalls der Idee eines EU-weiten flexiblen Arbeitsmarktes entgegen. Sicher ist jedoch, wenn nicht sehr schnell ein grundsätzlicher Neuanfang zunächst im nationalen Rentensystem gemacht wird, werden sich die jungen Generationen nach einer Regierung umsehen, die ihre Belange ernst und in die Hand nimmt. 

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