Die seltsame Wandlung der Schwarzen Galle -Eine Betrachtung von Thomas Seidel-



In der antiken Medizin wusste man einiges über Krankheiten, verstand aber nicht viel von deren Ursachen. Das durch den Mediziner Galen im zweiten nachchristlichen Jahrhundert verbreitete aber falsche Konzept der "Vier-Säfte-Lehre" hielt sich hartnäckig bis zu der Zeit von Rudolf Virchow (1821-1902), also satte 1.600 Jahre lang. Eine der vier Säfte war die "Schwarze Galle". Kein wirklicher Körpersaft, sondern eher ein Gemütszustand. In der deutschen Sprache gibt es ein sehr passendes Wort dafür, die Schwermut. Lange stand dieser Begriff für antriebslose, in-sich-gekehrte Menschen. Seit den 1960er Jahren allerdings hat diese durchaus ernsthafte Krankheit im Sprachumgang und seiner Umdeutung eine erstaunliche Karriere gemacht.

Allgemein war im Volksmund also bis in die frühen 1960er Jahren noch von schwermütigen Menschen die Rede. In gebildeteren Kreisen kam vielleicht auch mal der Begriff der Melancholie auf, der freilich dasselbe Phänomen wie der Volksmund meinte. Mit der zunehmenden Pseudoakademisierung der Gesellschaft nach den Studentenrevolten der 1968er Jahre wurde es üblich, zunehmend den, aus dem Amerikanischen adaptierten, Begriff der Depressionen zu benutzen. Damit einher ging ein gesellschaftlicher Betrachtungswandel und eine Verballhornung einer durchaus ernst zu nehmenden Erkrankung, die die wirklich Betroffenen zu verspotteten Opfern werden ließ. Denn auf einmal hatte jeder, der "kein Bock" hat Depressionen.

Bislang waren schwermütige oder eben melancholische Menschen von der Gesellschaft eher gemieden worden. Viele zogen sich sogar von dem Kontakt mit Menschen zurück. Das ist bei den tatsächlich Erkrankten auch heute noch der Fall. Von Amerika ausgehend, wurde es aber auf einmal sogar "chique", offen mit einer angeblichen Depression zu kokettieren. Dort, in den USA, hatte sich der Gang zu einem Psychiater längst gesellschaftlich etabliert. Wer seine banalsten Probleme nicht lösen kann, wird sogar von Arbeitgebern, manchmal auch auf deren Kosten, in eine psychiatrische Behandlung geschickt. Das  geht dort einher mit dem massenweisen Konsum fragwürdiger Medikamente, etwa wie allerlei Antidepressiva u.ä. wohlfeilen Pillen. Dort scheut man sich sogar nicht, selbst Kinder in dieser Weise zu behandeln.

In Europa hat die "Schwarze Galle" allerdings bis heute ihren bitteren Nachgeschmack behalten. Nach wie vor schämen sich die meisten, die sich in psychiatrische Behandlung begeben wollen oder sollen. Das alte gesellschaftliche Stigma ist geblieben. Auch spricht man hier nicht offen so viel darüber. Die Analogie, wer depressiv sei, gehöre am besten gleich in die Klappsmühle, hat nichts von ihrer Gültigkeit verloren. Wirklich geholfen wird den Betroffenen so oder so ohnehin nicht.

In der schönen globalen neoliberalen Wirtschaftswelt wächst ab den 1990er Jahren zunehmend der Wettbewerbsdruck am Arbeitsplatz. Es entstand ein neues Krankheitsphänomen, das auch gleich von diversen Heilsbringern zunehmend wirtschaftlich ausgeschlachtet wurde. Menschen, ausgesetzt einem  immer höherem Leistungsdruck bei gleichzeitig immer kürzeren Arbeitszeiten, brannten einfach psychisch aus. Da dies oft auf dem Höhepunkt ihrer Schaffensperiode passiert, finden solche Menschen nach einer "Aus-Zeit" oftmals keinen Anschluss mehr an ihre vorherige Arbeitsumgebung. Wer es nicht vermag, sich sinnvoll anders zu beschäftigen, stürzt gesellschaftlich schnell ab.

Dann bringen, nach den sinnlosen Kriegen im Irak und Afghanistan in Folge der Terroranschläge auf das World Trade Center am 11 September 2001, immer mehr, vor allem amerikanische Soldaten ein gar nicht mal so neues psychisches Krankheitsphänomen nach Hause. Dem wird die Bezeichnung "Posttraumatisches Belastungssyndrom" (PTBS) verpasst. Neuer Name, alte Probleme. Für die wahrhaft Betroffenen ein schreckliches Schicksal. Doch ist zu beobachten, dass immer mehr Leute, die eigentlich nicht erkrankt sind und schon gar keine Kriegs oder sonstige Gräuel miterleben mussten, diesen Begriff für sich auszunutzen versuchen. In Gesprächen mit Therapeuten wird Mitleid heischend gerne von den Schwierigkeiten und Hürden des gewöhnlichen Lebens erzählt. Schwermütig? Nie gehört! Melancholisch? Was soll das denn sein? Depressiv? Das ist doch gar nichts! Burnout? So was hatte man in den 1990er Jahren! Heute muss es schon mindestens PTBS sein, drunter geht gar nichts mehr bei den viel zu vielen Trittbrettfahrern einer an sich erschreckenden Krankheit.

Jüngst aber kommt es in Europa zu einer neuen Bezeichnung "Quarter-Life-Crises". Noch junge Menschen zwischen 25 und 30 Jahren stürzen, ganz am Anfang ihres tatsächlichen Erwachsenenlebens, in eine existenzielle Lebenskrise. Sie sind völlig überfordert mit den einfachsten Fragen des täglichen Lebens. Sie wissen nicht, wie sie sich etwa in einer normalen Arbeitsumgebung verhalten sollen. Sie kennen sich nicht aus im Umgang mit unterschiedlichen Leuten, seien es Kollegen oder Kolleginnen, seien es Kunden, Geschäftspartner oder Dienstleister. Sie sind nicht bereit, Menschen, von denen  Sie glauben sie befänden sich unter ihrem Niveau, als solche anzuerkennen. Sie erschrecken regelrecht vor dem tatsächlichen Kontakt mit real existierenden Menschen, obwohl sie in den Sozialen Medien oft hunderte oder gar tausende angebliche "Freunde" haben. Sie sind nicht in der Lage zu Verhandeln. Sie haben keine Vorstellung von den Regeln einer wirklichen physischen Kommunikation mit lebendigen Menschen. Sie können weder ihre eigenen Interessen formulieren, geschweige denn diese bei irgendwelchen Gelegenheiten durchsetzen. Sie haben, wie sie es selbst ausdrücken, "keinen Plan" und "keine Ahnung". Sie benutzen ständig hohle Phrasen wie etwa "auf jeden Fall", um zu verschleiern, dass sie meist ihre Gesprächspartner gar nicht verstanden haben. Kurzum, sie sind die erzogenen Verlierer. Die einzigen Auswege die ihnen bleiben, sind entweder aggressiv zu reagieren oder in sich zusammen zu fallen und an sich selbst zu verzweifeln.

Sehr oft handelt es sich bei den Betroffenen um akademisch gut ausgebildete Leute. Viele von ihnen stammen aus allzu behüteten Familienverhältnissen (Stichwort: Helikoptereltern). Bis zum Ende ihrer Ausbildungszeit waren sie umhegt von der elterlichen Fürsorge. Abgeschirmt von der realen aber auch manchmal brutalen Wirklichkeit, kannten sie bis dahin nur die Welt der familiären und universitären Wohlfühlgemeinschaften. Sie wissen nicht, wie ihre Nahrung entsteht und wenden sich angeekelt ab, wenn man ihnen mal zeigt, wie sie zu ihrem geliebten Stück Fleisch kommen. Sie glauben, der Strom kommt aus der Steckdose und koste nichts. Sie sind fest davon überzeugt, dass wirklich Alles zu jeder Zeit und an jedem Ort für sie zur Verfügung zu stehen habe. Sie sind nicht in der Lage irgendetwas mit Worten zu beschreiben und referenzieren deshalb ständig auf irgendwelche Filme oder Fernsehserien. Dabei setzen sie wie selbstverständlich voraus, dass ein Jeder dieselben Interessen wie sie zu haben hat und deshalb genau wüsste, wovon in ihren inhaltsleeren Gesprächen eigentlich die Rede ist. "Genau!"

Theoretisch gelten sie als gut ausgebildet, können aber nicht ohne App einen einfachen Dreisatz im Kopf lösen, etwa für einen schnellen Preisvergleich im Supermarkt. Dafür glänzen sie mit allerlei Wissen aus der Lehre der Statistik und versuchen auch damit zu argumentieren. Sie verstehen nicht, dass Statistiken keine absoluten Realitäten abbilden, sondern nur Verhältnisse. Sie sind vorprogrammiert mit jeder Menge hohlem Gutmensch-Werten aus diversen Disney-Filmen. Doch wenn sie am Anfang ihres Berufslebens auf die nackte Wahrheit des Lebens stoßen, merken sie, dass sie darauf im ersten Viertel ihres Lebens nie vorbereitet worden sind.

Das alles sind die langfristigen Folgen einer mittlerweile über drei Generationen hinweg andauernden Erziehung durch Eltern aus den Zeiten der 68er-Kulturrevolution. Diese Leute hatten einstmals zwar alle vorhergehenden gesellschaftlichen Werte verworfen. Sie haben aber versäumt, neue Werte einzusetzen, wie das bis dahin eigentlich jede Revolution getan hat. Die 68er sind einfach nur gegen Alles. Gegen jeden Fortschritt, gegen jede Realität, gegen jede existentielle Erfordernis, gegen jede Technik, gegen jede Erkenntnis die nicht ihren Träumerein entspricht. Gleichwohl haben sie es sich, vor allem in den Institutionen des Öffentlichen Dienstes, über die Jahre sehr gemütlich eingerichtet und leben ein parasitäres Leben auf Kosten einer weniger gut ausgebildeten aber fleißig arbeitenden Bevölkerung. Sie sind vorlaut und wortstark und schreien, ganz wie 1968, ihre Gegner einfach nieder.

Das ist keine typisch deutsche Entwicklung. Vielmehr hat sich diese Anmaßung in den meisten Ländern der sogenannten westlichen Welt durchgesetzt. Dabei machen sie sich systematisch die Schwächen anderer wirklich betroffener Menschen zu nutzte, um für sich selbst Vorteile aus den gesellschaftlichen Systemen abzuschöpfen. Solche Menschen pervertieren und korrumpieren ernsthafte Krankheitsbilder für ihre Zwecke und nutzen geschickt alle staatlichen Systeme und gesetzliche Regelungen nur zu ihrem eigenen Nutzen aus. 

Mangels wirklich ausreichendem geistigen Niveau, können sie nicht vernünftig und sachgerecht argumentieren. Sowohl ihr Angriffs- wie auch Abwehrmechanismus besteht darin, in den sozialen Medien eine vorauseilende Meinungsführerschaft mit den absurdesten Behauptungen über Sachverhalte und andere Menschen aufzustellen und jeden Menschen der sich gegen sie wehrt öffentlich an den Pranger zu stellen und gesellschaftlich nieder zu machen. 

So spritzen diese Menschen ihre "Schwarze Galle" in die Gesellschaft. Doch die wirklich Kranken bleiben Opfer, sind isoliert und es wird ihnen in den wenigsten Fällen angemessen geholfen. Eine ganze  Gesellschaft wird schwermütig gemacht, antriebslos, selbstzweifelnd, hadernd, unentschlossen. Aber auch gleichzeitig immer rücksichtsloser im menschlichen Umgang miteinander. 

Bildnachweis: Caspar David Friedrich "Mondaufgang am Meer"

Quelle: wikipedia, gemeinfrei

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