Die Herrschaft der Minderheiten - Ein Essay von Thomas Seidel-




Der Sinn einer Demokratie ist die Herrschaft des Willens einer Mehrheit von Stimmberechtigten. Eine Demokratie kann nur funktionieren, wenn die Minderheit bereit ist, sich dem Willen der Mehrheit zu beugen. Zum Ausgleich für diese Unterwerfung garantiert die Mehrheit in einem demokratischen System freilich die Beachtung von verfassten Schutzrechten gegenüber den Minderheiten. So haben sich zumindest einige der sogenannten westlichen Demokratien im Fahrwasser der amerikanischen und französischen Revolution entwickelt. Doch die sogenannte Kulturrevolution der 1968er-Jahre hat dazu geführt, dass dieses grundsätzliche Verständnis über die Demokratie gründlich pervertiert worden ist. 

Schon in der antiken Demokratie von Athen, etwa seit dem fünften vorchristlichen Jahrhundert, war es die größte Sorge des Volkssouveräns, vertreten durch die städtische Volksversammlung als Legislative, dass die Demokratie durch einen möglichen Machtmissbrauch seitens der Exekutive pervertiert werden könnte. Die Sorge hatte man auch im antiken noch republikanischen Rom. Hier wie dort versuchte man einem eventuellen Machtmissbrauch durch extrem kurze Amtszeiten der Executive von höchstens einem Jahr vorzubeugen. Gleichwohl gelang es machthungrigen Tyrannen, vor allem in Zeiten von krisenhaften Bedrohungen, immer wieder die Macht an sich zu reißen und dem Volk ihre Bedingungen zu diktieren. Freilich, ohne eine direkte oder zumindest indirekte Beteiligung von Volksvertretern ging es auch während einer Tyrannei oder Diktatur nie allzu lange gut. 
Dass allerdings die Pervertierung der Demokratie einmal durch die Legislative selbst zustande kommen würde, dass haben sich weder die antiken noch die neuzeitlichen Denker und Verfassungsgeber je träumen lassen. Und doch ist es heute so gekommen. 
In Deutschland aber auch anderswo begann es mit einem Phänomen, dass heute allgemein als die "Kulturrevolution der 1968er" bekannt ist. Das ist die Generation der selbsternannten "Begnadeten der späten Geburt", wie es auch etwas abgewandelt zum Beispiel der spätere deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl für sich in Anspruch nahm. Gemeint sind die, etwa ab 1946 oder etwas früher und bis etwa 1953, geborenen Kinder deutscher Eltern. Jene Eltern jedenfalls waren aktive oder passive Teilnehmer des 2. Weltkriegs. Ihre Kinder selbst aber betrachten sich aufgrund ihres späten Geburtstermins als unschuldig an den Gräueln des 2. Weltkriegs. 
Um das Jahr 1968 drängte diese Generation sich damals in die Universitäten oder tummelte sich bereits dort. Eine extremistische Minderheit dieser jungen Leute, war mit den bestehenden Gesellschaftsverhältnissen ihrer Zeit sehr unzufrieden, nicht nur in Deutschland, sondern in vielen Demokratien der westlichen Welt, so etwa in den USA aber auch besonders in Frankreich und Italien.
Zu dieser Zeit zeigten sich die Nachkriegsgesellschaften in einem desolaten politischen Zustand.

Damals tobte der Kalte Krieg zwischen den Supermächten USA und Sowjetunion, heiß ausgefochten als Vietnamkrieg mit dessen unzähligen Toten. Christliche Kirchen und Sekten übten, bis heute ungesühnt, ihre Macht über die Gläubigen und in der Gesellschaft missbräuchlich vor allem als Bannerträger einer verkommenen Sexualmoral aus, insbesondere mit ihrem unangemessen hohen politischen Einfluß vor allem in Deutschland und Italien. In den westlichen Gesellschaften herrschten überkommene spießige Konventionen, die in ihren faschistischen Träumen in vielen Gesellschaftsteilen auch bis heute nie nachgelassen haben. Es existierte eine restriktive Justiz, die bis dahin, vor allem in West-Deutschland, in Teilen immer noch durch ehemalige Nazis und deren Mitläufer  durchdrungen war. Ganz speziell in Deutschland, hallte das andauernde Schweigen einer verlogenen Elterngeneration über die Wahrheiten ihres Wirkens und Leidens während der Nazi-Herrschaft. Das alles fanden die jungen Leute einfach nur zum "kotzen".
Auch die kapitalistische Wirtschaftsordnung der westlichen Welt wurde von den Studenten schon damals als ausbeuterisch, resourcenverschwendend und umweltvernichtend angesehen. Die Studenten betrachteten den Neomarxismus der Frankfurter Schule als das bessere Wirtschaftsvorbild im Vergleich mit dem Liberalismus eines August von Hayek und dessen Anhänger. 
Demokratisch war den jungen Leuten die Freiheit der Rede besonders wichtig. Aber die Generation der "Begnadeten der späten Geburt" taten ganz so, als ob sie die Redefreiheit nicht bereits genossen hätten. Das vermischte sich mit einem diffusen Ruf nach Freiheit in der persönlichen Lebensführung. 
Gemeint war damit vor allem eine Art sexuelle Handlungsfreiheit. Darunter verstanden vor allem die meist jungen männlichen "Möchte-gern-Revoluzzer" allerdings vor allem die Freiheit mit möglichst vielen Frauen hemmungslos herum zu ficken. Die Frage der Verhütung, dank der Pille wesentlich einfacher geworden, überließen diese "freiheitsliebenden" Herren dabei großzügigerweise gern der verantwortungsvollen Obhut der Frauen, inklusive eventueller Nachkommenbetreuung. 
Schließlich kämpfte man von Anfang an gegen den scheinbar allgegenwärtigen jederzeit drohenden Atomtod! Das ging einher mit einer mystischen Angst vor allerlei gesundheitsschädlicher oder gar tödlicher Strahlung von diversen neu aufkommenden Gerätschaften, vor allem den späteren Mobiltelefonen oder etwa auch nur von stromführenden Hochspannungsleitungen. Gleichwohl nahm man gerne die technischen Segnungen der Elektrifizierung im täglichen Leben stets in Anspruch. 

Als die Orte an denen die Revolten losbrachen und sich am schlimmsten entfalteten, entpuppten sich bevorzugt die Universitäten. In Deutschland waren vor allem West-Berlin und Frankfurt ganz vorne mit dabei. Man protestierte gegen die alteingesessene Professorenschaft, Stichwort: "Unter den Talaren der Muff von 1000 Jahren". Man besetzte Hörsäle, diskutierte endlos über die angeblichen Gesellschaftsprobleme, zog grölend, randalierend und pöbelnd durch die Straßen, besetzte Altbauhäuser und hinterließ überall Schmierereien, die von dieser Generation flink zu einer neuen Art von Kunst umdefiniert wurde. Begleitet wurde das Milieu von immer konfuser und immer lauter werdenden  Musik, der jede Melodie und Harmonie abging, die aber wie nichts anderes den wahren Geisteszustand ihrer Zuhörer preisgab, dem Rock n' Roll in jeder seiner Ausprägungen. 

Die protestierenden Studenten waren vor allem laut und Lautstärke wurde zum Hauptinstrument ihrer Macht. Mit ihnen vernünftig zu argumentieren war sinnlos. Meinungsgegner wurde durch Niederschreien seitens der Protestierenden öffentlich fertig gemacht. Diese früh eingeübte Methode der permanenten widerwärtigen, abwertenden und verunglimpfenden Denunzierung und Beschimpfung ihrer Gegner, sollte erst mit dem Aufkommen des "Social Media" auf den Internet-Plattformen in unserer Zeit so richtig breit in Fahrt kommen und führt heute zu stark ansteigender Desinformation. Die diabolische Saat der totalen Respektlosigkeit einfach Jedem und Allem gegenüber wurde aber bereits von der 68er-Generation gelegt. Dabei ist diesen gewaltträchtigen, grölenden, beschimpfenden und verunglimpfenden Minderheiten nie in den Sinn gekommen, dass ihr Verhalten selbst zutiefst den Handlungsmustern der von ihnen angeblich so vehement bekämpften Faschisten bis ins Detail entspricht und sie sich von denen, die angeblich ihre ärgsten Feinde sind, in Wahrheit in nichts unterscheiden. 

Die Protestierenden berufen sich auf sozialistisch-kommunistische Phantasten wie Karl Marx, Friedrich Engels und Ernst Bloch, lassen sich anleiten von der Kritischen Theorie eines Theodor W. Adorno, Max Horkheimer und Herbert Marcuse, schließlich verherrlichen sie Massenmörder wie Lenin, Stalin, Mao, Fidel Castro, Che Guevara und Ho Chi Min. Obdessen ist es kein Wunder, dass bei einigen von ihnen ihre Angelegenheiten ins Gewaltsame abgleiten.

Die Situation eskalierte. Manche der studentischen Kritiker wurden erst kriminell, drifteten dann aber noch in den terroristischen Untergrund ab. So etwa die Roten Brigaden in Italien, die Rote Armee Fraktion in Deutschland oder der Sendero Luminoso in Peru. 
Solche und ähnliche Untergrundorganisationen in diversen Ländern richteten ihre Gewalt direkt an Vertreter des ihnen so verhassten Systems. Viele Menschen wurden ermordet. Etwa der italienische Ministerpräsident Aldo Moro oder viele Deutsche wie etwa Jürgen Ponto und Alfred Herrhausen aus der Bankenwelt, Hans-Martin Schleyer vom Arbeitgeberverband, hohe Staatsbeamte wie Siegfried Buback und Detlev Karsten Rohwedder. Dazu, besonders verabscheuungswürdig, völlig unbeteiligte Bürger etwa wie die Fahrer der ermordeten Prominenten oder auch nur einfache Kaufhauskunden. Die Terroristen verschonten Nichts und Niemanden, um ihre erklärten Ziele zu erreichen. Der Terror wurde rücksichtslos, schamlos und grenzenlos. Man verbündete sich mit anderen terroristischen Vereinigungen in diversen Ländern und führte gemeinsam Terroranschläge aus und legte damit die Keimzellen für einen Fluch, dem die Völker bis heute ausgeliefert sind: die ständigen Terroranschläge angeblich politisch unterdrückter Minderheiten.

Allein, all diese Weltverbesserer sind und bleiben als politische Kraft bis heute prinzipiell eine Minderheit. Kaum fünf Prozent einer möglichen Wählerschaft gehören zu der Kernklientel etwa von Umweltparteien oder stramm linken bzw. extrem rechten Gruppierungen des politischen Spektrums, nicht mehr und nicht weniger. Doch damit nicht genug mit solchen Minderheiten. Neben diesen sich explizit politisch organisierenden Gruppen, bilden sich ständig mehr und mehr Bürgerinitiativen mit dem Zweck, vorzugsweise immer und überall gegen alles mögliche zu sein. Meist sehr lokal begrenzt, aber immer ausserhalb jeder demokratischen Ordnung agierende Interessengruppen, oftmals winzige Minderheiten innerhalb der Gesamtbevölkerung, die dennoch ihren Willen der Mehrheit der Bürger mit allen Mitteln aufdrücken wollen.

All diese Minderheiten haben gemeinsam, dass sie Forderungen stellen, die sich nur auf die Durchsetzung ihrer eigenen Interessen beziehen. Sie beanspruchen für sich spezielle Rechte. Nicht aber in erster Linie die Durchsetzung von solchen Rechten wie es ihnen die Staatsverfassung, die Gesetzgebung und die Rechtssprechung eines demokratischen Landes sowieso schon zugestehen. Nein sie wollen darüber hinaus spezielle Rechte für ihre spezifischen Interessen erhalten, die ständige "lex exceptio...". Dabei sind ihnen zwei Dinge vollkommen gleichgültig: zum einen der Wille einer Mehrheitsmeinung, zum anderen jeglicher Gedanke an etwaige Pflichten eines jeden Bürgers gegenüber der Allgemeinheit in einer verfassten Gesellschaft.

Gerade diese Geisteshaltung von der zunehmenden Pflichtlosigkeit eines Individuums der gesamten Gesellschaft gegenüber, ist eine der am meisten zersetzenden Elemente moderner demokratischer Gesellschaften. Da muss man gleich an den ermordeten US-Präsidenten John. F. Kennedy denken, der einstmals bei seiner Amtseinführung sagte: "Fragt nicht, was der Staat für Euch tun kann, fragt, was Ihr für den Staat tun könnt!" So ein Appell würde in den heutigen "freien" Gesellschaften völlig wirkungslos verhallen, ja wahrscheinlich schreiende Kritik diverser Minderheiten provozieren. Zu den Pflichten innerhalb einer Gesellschaftsordnung gehört übrigens auch, etwas ertragen oder mittragen zu müssen, was einem vielleicht eben nicht persönlich passt.

Wie sehr sich das demokratiefeindliche Gebaren von Minderheiten zumindest in Deutschland inzwischen in den Wertekanon der Tagespolitik eingeschlichen hat, zeigt exemplarisch eine Rede des ehemaligen Bundestagspräsidenten Norbert Lammert von 2006 in Gelsenkirchen. Dort heißt es u.a.: 

"Das Wesen der Demokratie besteht zweifellos darin, dass Mehrheiten entscheiden. Ja. Aber die Qualität einer freiheitlichen Gesellschaft erkennt man weniger darin, dass Mehrheiten entscheiden, man erkennt sie darin, wie eine Gesellschaft mit ihren Minderheiten umgeht. Dass nicht nur die Entscheidung der Mehrheit gilt, sondern dass Minderheiten Rechte haben und dass sie von niemandem auch von Mehrheiten nicht angetastet werden dürfen".

Lammert, immerhin Vertreter einer sich selbst so nennenden Volkspartei, argumentiert hier ganz so, als ob es nicht schon Minderheitenschutz in den Verfassungen und der Gesetzgebung westlicher Demokratien gäbe. Er erklärt diesen Minderheitenschutz zum Qualitätsmerkmal einer demokratischen Gesellschaft. Er vergisst aber zu erwähnen, dass eine Demokratie überhaupt nur funktionieren kann, wenn sich die Minderheiten den Beschlüssen der Mehrheit nun mal beugen und auch die damit einhergehenden Pflichten auf sich nehmen. 
Lammert, geboren 1948 und selbst ein typischer Vertreter der 68er-Generation, war immerhin drei Legislaturperioden lang Bundestagspräsident und damit protokollarisch der zweithöchste Mann im deutschen Staate. Er bezeugt mit dieser Aussage, wie wenig er eigentlich von den Prinzipien der demokratischen Gesellschaft verstanden hat. Lammert ist auch ein typisches Beispiel dafür, wie sich 1968er-Generation im Laufe der Jahre durch die ihnen an sich verhassten Institutionen bis in höchste Stellen des Staates eingeschlichen haben und von dort aus ihr demokratiezersetzendes Wirken tun. Darüberhinaus erlauben sich einige dieser institutionalisierten Minderheitsvertreter sogar, repressive Staatssysteme und deren politische Propaganda als Vorbild für die eigene demokratische Gesellschaft zu referenzieren und solchen selbst bei aggressivsten Völkerrechtsverstößen sogar noch die politische Hand für scheinbare Friedensverhandlungen zu reichen.

Das grundsätzliche demokratische Primat der Mehrheit über die Minderheit ist heute in der politischen Realität immer weniger der Fall. Die Partikularinteressen in allen gesellschaftlichen Schichten nehmen immer mehr zu. Es gibt eine regelrechte Konjunktur von Splitterparteien und extremen Gruppierungen. Schlimmer noch, der schwindende allgemeine Wertekanon zeigt deutlich den fehlenden Respekt vor den Errungenschaften der Demokratie und zerstört diese von innen heraus, ganz so wie es die 68er-Generation vor über fünfzig Jahren all ihren Nachfahren vorgemacht hat.

So pervertiert also nicht eine machthungrige Exekutive den Bestand der Demokratien wie es über zweieinhalbtausend Jahre befürchtet worden ist, sondern sie werden aus dem Kreis der Legislative, durch verschiedene Minderheiten bei den Vertretern des Volkssouveräns heraus langsam aber sicher zerstört. 

Tatsächlich steht den lautstark pöbelnden, demokratiezersetzenden Minderheitselementen allerdings nach wie vor eine überwältigende Mehrheit pflichtbewusster, fleißiger, uneitler Bürger gegenüber, die allgemein als die "Schweigende Mehrheit" bekannt sind. Diese Menschen labern und lamentieren nicht viel über grundsätzliche Rechte und Zustände, sondern sie packen an und tun etwas wenn es nötig ist und helfen unaufgefordert in allen Notsituationen. Auch wenn sich die meisten von ihnen politisch desinteressiert geben, sind dennoch sehr viele auch gesellschaftlich stark engagiert. Sie stehen bereit etwa als ehrenamtliche Helfer für alle möglichen Aufgaben; sie tragen ganze gesellschaftliche Bereiche wie zum Beispiel den Sport; sie unterstützen selbstlos bei allen möglichen Katastrophenfällen; sie sind die Basis vielerlei kulturellen Geschehens und sie räumen im wahrsten Sinn des Wortes den Dreck weg, wenn die brüllenden Minderheiten nach ihren Demonstrationen einen versauten öffentlichen Raum hinterlassen.

Wollen die westlichen Demokratien in Zukunft im Sinne ihrer Verfassungen überleben, braucht es mehr denn je das politische Engagement der sogenannten "Schweigenden Mehrheit", die all die Drangsal jener zersetzenden Minderheiten nicht nur erduldet, sondern auch noch bezahlt. Doch wie soll das gelingen? Wie können die Grundfesten der Demokratie wieder gefestigt werden? Was können Politiker tun, wenn sie dem Willen der Mehrheit wieder eine angemessene Geltung verschaffen wollen?

Zunächst gilt es, den Menschen der "Schweigenden Mehrheit" Anerkennung und Respekt für ihre so oft unsichtbaren Leistungen zu zollen, anstatt sie immer wieder mit neuen Gesetzen und Vorschriften zu gängeln, zu drangsalieren und auszuquetschen. 
Ein zeitgemäßer übergeordneter Wertekanon muss entwickelt und kommuniziert werden. Dieser sollte breit genug sein, damit sich möglichst viele Bürger damit identifizieren können. Der Wähler muss das Gefühl haben, mit dem politischen Wertekanon auf der richtigen Seite zu stehen. Darüber hinaus sollen solche Werte sowohl die Freiheit wie auch die Pflicht der Bürger innerhalb und gegenüber der Gemeinschaft betonen. Programme an denen sich jeder Einzelne orientieren und wiederfinden kann sind aber nur das Eine. 
Politik wird von Menschen für Menschen gemacht und die Wähler haben ein sehr gutes Gespür für Blender und Blutsauger. Es braucht also vor allem authentische und leidenschaftliche Persönlichkeiten, die sich einer Wahl durch die Bürger stellen. Immer dann, wenn es sich bei einem Kandidaten für eine politisches Amt nur um Verwalter handelt, nimmt das Interesse des Wahlvolks an der Politik sehr schnell ab. Das ist seit Jahren, um nicht zu sagen seit Jahrzehnten, das Kernproblem der Parteien und ihrer politischen Kandidaten. In den allermeisten Fällen handelt es sich um gesichtslose Verwaltungstypen, denen man einerseits ihre politische Leidenschaftslosigkeit anderseits ihre Ämtergier schon von weiten anmerkt. Leute also, die in einer Politkarriere in erster Linie geschmeidig ihren persönlichen Versorgungsinteressen nachgehen und ansonsten möglichst für keine ihrer Entscheidungen irgendeine Art von Verantwortung übernehmen wollen. Deswegen richtet man gerne irgendwelche Gremien für Entscheidungsfindungen ein, oder überlässt die Formulierung etwa von Gesetzen gleich ganz externen Beratern. Wenn gar nichts hilft, beruft man sich auch schon mal auf die Unabwendbarkeit supranationaler Entscheidungen, etwa wie die der Europäischen Union. 
Der abgewählte ehemalige Frankfurter Oberbürgermeister Peter Feldmann ist dafür nur ein jüngstes und extremes Beispiel. Doch gerade in der Politik muss man auch in Kauf nehmen, Menschen können scheitern, enttäuschen, man kann auf sie hereinfallen. Aber genau dies zu korrigieren, auch dafür ist die Demokratie gemacht und gedacht. 

Wenn die Wähler das Gefühl vermittelt bekommen, dass sie letztlich doch der tatsächliche Souverän sind, dann werden sie auch wieder an Politik interessiert sein. Nicht die Parteien sollten einen Politiker formen, sondern ein Politiker sollte seine Partei formen. Parteien sind nichts anderes als Wahlvehiekel. Nicht die Organisation einer politischen Partei darf im Vordergrund stehen, sondern der einzelne Bewerber um ein öffentliches Amt muss sich dem einzelnen Bürger als Souverän gegenüber rechtfertigen. 

Charismatische Führungsfiguren finden sich immer wieder und wenn sie sich als Luschen herausstellen, hat die demokratische Ordnung Instrumente sich ihrer wieder zu entledigen. Viel schwieriger als das wird allerdings die Herstellung eines allgemein gültigen Wertekanon. Revolutionen, die überkommene Werte hinweg gewischt haben, gab es schon immer. Die Revolten der Geschichte zeichneten sich sogar dadurch aus, dass sie bereits einen neuen gültigen Wertkanon entwickelt hatten, bevor sie  zu dessen Umsetzung in die Revolution selbst einstiegen. 

Bei der Revolution der 68er-Generation war dies allerdings vollkommen anders. Man störte sich an der Gesellschaft und zerstörte alle alten Gewissheiten jener Gesellschaft, aber anders als bei allen anderen Revolutionen setzte man keine neue Werte mehr ein. Alles was blieb war eine gesellschaftliche und geistige Leere. Entsprechend sinnentleert wuchsen die Kinder der 68er-Revoluzzer vor allem in den 1980er Jahren auf. Von ihren Revoluzzer-Eltern völlig unvorbereitet auf das Leben gelassen, ohne jeden Inhalt und Sinn, wandten sich diese Kinder den einzigen ihnen begegnenden gesellschaftlichen Unterscheidungswerten zu, dem Konsum von Gütern. So entstand das, was man in Deutschland als die "Generation Golf" bezeichnete. Teens, Twens und später Erwachsene, für die der markenorientierte Konsum die einzige vorzeigbare Existenzunterscheidung wurde. Erst deren Kinder, die Enkel der 68er, angewidert von ihren gesellschaftshassenden Großeltern und ihren hirnlos konsumierenden Eltern, begannen damit, für sich neue Werte zu entdecken und dafür zu kämpfen: saubere Umwelt, gesunde Ernährung, Antidiskrimmnierung, u.v.a.m. Freilich entwickelten sie sich dadurch ihrerseits zu neuen politisch aggressiven Minderheiten.

Um sich den schreienden und krakelenden Minderheiten zu erwehren, braucht es nicht dieselben aggressiven  Instrumente und Vorgehensweisen solcher Menschen. Es genügt ganz einfach in der realen und medialen Öffentlichkeit kund zu tun, dass man mit deren Forderungen und Inhalten nicht einverstanden ist. Doch haben dabei einzelne Aussagen wenig Wirkung. Es braucht Tausende gar Hunderttausende oder sogar Millionen von Stimmen mit einer einfachen Ansage: Wir sind die tragende Mehrheit und machen da nicht mit! 
Denn jede noch so aggressive Minderheit wird scheitern, wenn sie merkt, dass sie mit Ihren Vorstellungen einfach keinen Anklang bei der Mehrheit findet. Dadurch kann die Herrschaft der Mehrheit über die Minderheit wieder hergestellt werden.

Bildnachweis: Studentischer Protest in Frankfurt am Main 1968
Quelle: Google, FAZ, Urheber: FAZ

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