Die Herrschaft der Minderheiten - Ein Essay von Thomas Seidel-
Der Sinn einer Demokratie ist die Herrschaft des Willens einer Mehrheit von Stimmberechtigten. Eine Demokratie kann nur funktionieren, wenn die Minderheit bereit ist, sich dem Willen der Mehrheit zu beugen. Zum Ausgleich für diese Unterwerfung garantiert die Mehrheit in einem demokratischen System freilich die Beachtung von verfassten Schutzrechten gegenüber den Minderheiten. So haben sich zumindest einige der sogenannten westlichen Demokratien im Fahrwasser der amerikanischen und französischen Revolution entwickelt. Doch die sogenannte Kulturrevolution der 1968er-Jahre hat dazu geführt, dass dieses grundsätzliche Verständnis über die Demokratie gründlich pervertiert worden ist.
Als die Orte an denen die Revolten losbrachen und sich am schlimmsten entfalteten, entpuppten sich bevorzugt die Universitäten. In Deutschland waren vor allem West-Berlin und Frankfurt ganz vorne mit dabei. Man protestierte gegen die alteingesessene Professorenschaft, Stichwort: "Unter den Talaren der Muff von 1000 Jahren". Man besetzte Hörsäle, diskutierte endlos über die angeblichen Gesellschaftsprobleme, zog grölend, randalierend und pöbelnd durch die Straßen, besetzte Altbauhäuser und hinterließ überall Schmierereien, die von dieser Generation flink zu einer neuen Art von Kunst umdefiniert wurde. Begleitet wurde das Milieu von immer konfuser und immer lauter werdenden Musik, der jede Melodie und Harmonie abging, die aber wie nichts anderes den wahren Geisteszustand ihrer Zuhörer preisgab, dem Rock n' Roll in jeder seiner Ausprägungen.
Die protestierenden Studenten waren vor allem laut und Lautstärke wurde zum Hauptinstrument ihrer Macht. Mit ihnen vernünftig zu argumentieren war sinnlos. Meinungsgegner wurde durch Niederschreien seitens der Protestierenden öffentlich fertig gemacht. Diese früh eingeübte Methode der permanenten widerwärtigen, abwertenden und verunglimpfenden Denunzierung und Beschimpfung ihrer Gegner, sollte erst mit dem Aufkommen des "Social Media" auf den Internet-Plattformen in unserer Zeit so richtig breit in Fahrt kommen und führt heute zu stark ansteigender Desinformation. Die diabolische Saat der totalen Respektlosigkeit einfach Jedem und Allem gegenüber wurde aber bereits von der 68er-Generation gelegt. Dabei ist diesen gewaltträchtigen, grölenden, beschimpfenden und verunglimpfenden Minderheiten nie in den Sinn gekommen, dass ihr Verhalten selbst zutiefst den Handlungsmustern der von ihnen angeblich so vehement bekämpften Faschisten bis ins Detail entspricht und sie sich von denen, die angeblich ihre ärgsten Feinde sind, in Wahrheit in nichts unterscheiden.
Die Protestierenden berufen sich auf sozialistisch-kommunistische Phantasten wie Karl Marx, Friedrich Engels und Ernst Bloch, lassen sich anleiten von der Kritischen Theorie eines Theodor W. Adorno, Max Horkheimer und Herbert Marcuse, schließlich verherrlichen sie Massenmörder wie Lenin, Stalin, Mao, Fidel Castro, Che Guevara und Ho Chi Min. Obdessen ist es kein Wunder, dass bei einigen von ihnen ihre Angelegenheiten ins Gewaltsame abgleiten.
Allein, all diese Weltverbesserer sind und bleiben als politische Kraft bis heute prinzipiell eine Minderheit. Kaum fünf Prozent einer möglichen Wählerschaft gehören zu der Kernklientel etwa von Umweltparteien oder stramm linken bzw. extrem rechten Gruppierungen des politischen Spektrums, nicht mehr und nicht weniger. Doch damit nicht genug mit solchen Minderheiten. Neben diesen sich explizit politisch organisierenden Gruppen, bilden sich ständig mehr und mehr Bürgerinitiativen mit dem Zweck, vorzugsweise immer und überall gegen alles mögliche zu sein. Meist sehr lokal begrenzt, aber immer ausserhalb jeder demokratischen Ordnung agierende Interessengruppen, oftmals winzige Minderheiten innerhalb der Gesamtbevölkerung, die dennoch ihren Willen der Mehrheit der Bürger mit allen Mitteln aufdrücken wollen.
All diese Minderheiten haben gemeinsam, dass sie Forderungen stellen, die sich nur auf die Durchsetzung ihrer eigenen Interessen beziehen. Sie beanspruchen für sich spezielle Rechte. Nicht aber in erster Linie die Durchsetzung von solchen Rechten wie es ihnen die Staatsverfassung, die Gesetzgebung und die Rechtssprechung eines demokratischen Landes sowieso schon zugestehen. Nein sie wollen darüber hinaus spezielle Rechte für ihre spezifischen Interessen erhalten, die ständige "lex exceptio...". Dabei sind ihnen zwei Dinge vollkommen gleichgültig: zum einen der Wille einer Mehrheitsmeinung, zum anderen jeglicher Gedanke an etwaige Pflichten eines jeden Bürgers gegenüber der Allgemeinheit in einer verfassten Gesellschaft.
Gerade diese Geisteshaltung von der zunehmenden Pflichtlosigkeit eines Individuums der gesamten Gesellschaft gegenüber, ist eine der am meisten zersetzenden Elemente moderner demokratischer Gesellschaften. Da muss man gleich an den ermordeten US-Präsidenten John. F. Kennedy denken, der einstmals bei seiner Amtseinführung sagte: "Fragt nicht, was der Staat für Euch tun kann, fragt, was Ihr für den Staat tun könnt!" So ein Appell würde in den heutigen "freien" Gesellschaften völlig wirkungslos verhallen, ja wahrscheinlich schreiende Kritik diverser Minderheiten provozieren. Zu den Pflichten innerhalb einer Gesellschaftsordnung gehört übrigens auch, etwas ertragen oder mittragen zu müssen, was einem vielleicht eben nicht persönlich passt.
Wie sehr sich das demokratiefeindliche Gebaren von Minderheiten zumindest in Deutschland inzwischen in den Wertekanon der Tagespolitik eingeschlichen hat, zeigt exemplarisch eine Rede des ehemaligen Bundestagspräsidenten Norbert Lammert von 2006 in Gelsenkirchen. Dort heißt es u.a.:
"Das Wesen der Demokratie besteht zweifellos darin, dass Mehrheiten entscheiden. Ja. Aber die Qualität einer freiheitlichen Gesellschaft erkennt man weniger darin, dass Mehrheiten entscheiden, man erkennt sie darin, wie eine Gesellschaft mit ihren Minderheiten umgeht. Dass nicht nur die Entscheidung der Mehrheit gilt, sondern dass Minderheiten Rechte haben und dass sie von niemandem auch von Mehrheiten nicht angetastet werden dürfen".
Das grundsätzliche demokratische Primat der Mehrheit über die Minderheit ist heute in der politischen Realität immer weniger der Fall. Die Partikularinteressen in allen gesellschaftlichen Schichten nehmen immer mehr zu. Es gibt eine regelrechte Konjunktur von Splitterparteien und extremen Gruppierungen. Schlimmer noch, der schwindende allgemeine Wertekanon zeigt deutlich den fehlenden Respekt vor den Errungenschaften der Demokratie und zerstört diese von innen heraus, ganz so wie es die 68er-Generation vor über fünfzig Jahren all ihren Nachfahren vorgemacht hat.
So pervertiert also nicht eine machthungrige Exekutive den Bestand der Demokratien wie es über zweieinhalbtausend Jahre befürchtet worden ist, sondern sie werden aus dem Kreis der Legislative, durch verschiedene Minderheiten bei den Vertretern des Volkssouveräns heraus langsam aber sicher zerstört.
Tatsächlich steht den lautstark pöbelnden, demokratiezersetzenden Minderheitselementen allerdings nach wie vor eine überwältigende Mehrheit pflichtbewusster, fleißiger, uneitler Bürger gegenüber, die allgemein als die "Schweigende Mehrheit" bekannt sind. Diese Menschen labern und lamentieren nicht viel über grundsätzliche Rechte und Zustände, sondern sie packen an und tun etwas wenn es nötig ist und helfen unaufgefordert in allen Notsituationen. Auch wenn sich die meisten von ihnen politisch desinteressiert geben, sind dennoch sehr viele auch gesellschaftlich stark engagiert. Sie stehen bereit etwa als ehrenamtliche Helfer für alle möglichen Aufgaben; sie tragen ganze gesellschaftliche Bereiche wie zum Beispiel den Sport; sie unterstützen selbstlos bei allen möglichen Katastrophenfällen; sie sind die Basis vielerlei kulturellen Geschehens und sie räumen im wahrsten Sinn des Wortes den Dreck weg, wenn die brüllenden Minderheiten nach ihren Demonstrationen einen versauten öffentlichen Raum hinterlassen.
Wollen die westlichen Demokratien in Zukunft im Sinne ihrer Verfassungen überleben, braucht es mehr denn je das politische Engagement der sogenannten "Schweigenden Mehrheit", die all die Drangsal jener zersetzenden Minderheiten nicht nur erduldet, sondern auch noch bezahlt. Doch wie soll das gelingen? Wie können die Grundfesten der Demokratie wieder gefestigt werden? Was können Politiker tun, wenn sie dem Willen der Mehrheit wieder eine angemessene Geltung verschaffen wollen?
Wenn die Wähler das Gefühl vermittelt bekommen, dass sie letztlich doch der tatsächliche Souverän sind, dann werden sie auch wieder an Politik interessiert sein. Nicht die Parteien sollten einen Politiker formen, sondern ein Politiker sollte seine Partei formen. Parteien sind nichts anderes als Wahlvehiekel. Nicht die Organisation einer politischen Partei darf im Vordergrund stehen, sondern der einzelne Bewerber um ein öffentliches Amt muss sich dem einzelnen Bürger als Souverän gegenüber rechtfertigen.
Charismatische Führungsfiguren finden sich immer wieder und wenn sie sich als Luschen herausstellen, hat die demokratische Ordnung Instrumente sich ihrer wieder zu entledigen. Viel schwieriger als das wird allerdings die Herstellung eines allgemein gültigen Wertekanon. Revolutionen, die überkommene Werte hinweg gewischt haben, gab es schon immer. Die Revolten der Geschichte zeichneten sich sogar dadurch aus, dass sie bereits einen neuen gültigen Wertkanon entwickelt hatten, bevor sie zu dessen Umsetzung in die Revolution selbst einstiegen.
Bei der Revolution der 68er-Generation war dies allerdings vollkommen anders. Man störte sich an der Gesellschaft und zerstörte alle alten Gewissheiten jener Gesellschaft, aber anders als bei allen anderen Revolutionen setzte man keine neue Werte mehr ein. Alles was blieb war eine gesellschaftliche und geistige Leere. Entsprechend sinnentleert wuchsen die Kinder der 68er-Revoluzzer vor allem in den 1980er Jahren auf. Von ihren Revoluzzer-Eltern völlig unvorbereitet auf das Leben gelassen, ohne jeden Inhalt und Sinn, wandten sich diese Kinder den einzigen ihnen begegnenden gesellschaftlichen Unterscheidungswerten zu, dem Konsum von Gütern. So entstand das, was man in Deutschland als die "Generation Golf" bezeichnete. Teens, Twens und später Erwachsene, für die der markenorientierte Konsum die einzige vorzeigbare Existenzunterscheidung wurde. Erst deren Kinder, die Enkel der 68er, angewidert von ihren gesellschaftshassenden Großeltern und ihren hirnlos konsumierenden Eltern, begannen damit, für sich neue Werte zu entdecken und dafür zu kämpfen: saubere Umwelt, gesunde Ernährung, Antidiskrimmnierung, u.v.a.m. Freilich entwickelten sie sich dadurch ihrerseits zu neuen politisch aggressiven Minderheiten.
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