Wäre die Finanzkrise nach deutschem HGB nicht passiert? -Ein Vortrag über den Zusammenhang von Buchhaltung und Finanzstabilität- von Thomas Seidel
Einfach aber wahr! (Quelle: Thomas Seidel) |
Im Nachklang der Finanzkrise von 2007/2008 sind viele
Akteure beschuldigt worden, letztlich Verursacher dieser bislang schlimmsten
globalen Wirtschaftskrise, deren Auswirkungen noch immer andauern, zu sein.
Unter anderem machen einige auch internationale Buchungsregeln verantwortlich,
namentlich die Vorschriften nach den International Financial Reporting
Standards (IFRS) und dem International Accounting Standards (IAS). Vom
Präsidenten des Accounting Standards Committee of Germany Prof. Dr. Andreas
Barckow war kürzlich in geschliffenstem Englisch ein Vortrag zu hören, der zu
diesem Thema sehr nachdenklich macht.
Vorträge über Buchhaltungs-Standards scheinen per se tröge
und sehr spezialisiert zu sein.
Müssen sie aber nicht, wie Andreas Barckow unter Beweis
stellte und mit witzigen Karikaturen belegte. In der Sache aber ging Barckow
bis ins kleinste Detail. Das hier im Einzelnen wider zu geben, könnte leicht
ausufern. Deshalb muss die in Rede stehende Problematik etwas anders
dargestellt werden.
Prof. Dr. Andreas Barckow während seines Vortrags (Quelle: Thomas Seidel) |
Mittelpunkt der Kritik an den Regeln, hier insbesondere IAS
39 und IFRS 9, ist der Umgang mit der Bewertung von Finanzinstrumenten in den Bilanzen
der Banken. Dazu muss man wissen, dass die Regelwerke IAS und IFRS entstanden
sind, um die Bilanzen von Unternehmen, über nationale Bewertungsvorschriften
hinweg, vergleichbar zu machen. Angelehnt hat man sich dabei vor allem an die
nationalen Vorschriften der Vereinigten Staaten, wie sie dort nach dem lokalen „Generally
Accepted Accounting Principals (US-GAAP)“ bekannt sind. Darin ist ein Prinzip
verankert, welches die Bewertung von bestimmten Anlagegütern, insbesondere in
den Bilanzen von Banken, zum sogenannten „Fair-Value“ vorsieht. Das ist ein
komplexer Begriff, der letztlich darauf hinausläuft, Anlagen per Bilanzstichtag
zu einem abdiskontierten Barwert, theoretisch nahe an einem aktuellen
Marktpreis, zu bewerten. So schwanken denn auch in amerikanischen Bilanzen die
Erträge unter Umständen heftig. Und das passiert von Quartal zu Quartal, da
börsennotierte Unternehmen jenseits des Atlantik alle drei Monate zur
öffentlichen Berichterstattung verpflichtet sind. Eins fällt bei der Bewertung
nach dem „Fair-Value“ weitestgehend unter den Tisch, die Bildung von „Stillen
Reserven“ in einer Bilanz.
Die Möglichkeit zur Bildung von „Stille Reserven“ wiederum
sind ein typisch deutsches Bilanzierungsprinzip, wie es nach den Regeln des
Handelsgesetzbuches (HGB) möglich ist. Das deutsche Kreditwesengesetz schöpft
dieses Prinzip sogar noch weiter aus und erlaubt es Kreditinstituten, über den
Rahmen des HGB hinaus, noch weitere „Stille Reserven“ aufzubauen. Der Gedanke
dahinter ist, Kreditinstituten eine Möglichkeit zu schaffen, eventuell
eingetretene Verluste in einem Bilanzjahr durch die Auflösung „Stiller
Reserven“ zu bereinigen, ohne das dies in der Bilanz einer Bank unmittelbar
sichtbar wäre. Der Öffentlichkeit bleiben solche buchhalterischen Operationen also
verborgen, daher auch die Bezeichnung „Stille Reserven“.
Warum sich das auf den beiden Seiten des Atlantik jeweils so
anders entwickelt hat, bedingt sich unter anderem in der unterschiedlichen
Wegen zur Kapitalfinanzierung von Unternehmen. Während in Amerika Unternehmen
sich viel Kapital auf den Aktien- und Bondmärken durch Wertpapierausgabe beschaffen,
finanzieren sich deutsche Unternehmen nach wie vor überwiegend durch
Bankkredite. In Amerika schien also der Schutz des Wertpapieranlegers
vorrangig, in Deutschland der Schutz der Gläubiger, das sind vor allem die
Banken.
Das Thema des Tages: Flying Blind? (Quelle: Thomas Seidel) |
Es ist müßig an dieser Stelle die möglichen Vor- und
Nachteile der beiden Systeme einander abzuwägen. Im Falle einer Krise des
Finanzsystems stellen sich die Marktteilnehmer sofort die Frage nach der
Vertrauenswürdigkeit der Banken. Zum Höhepunkt der Finanzkrise 2007/2008, mit
dem Zusammenbruch von Lehman Brothers als öffentliche Spitze des Dramas, waren
die amerikanischen Banken gezwungen, Quartal für Quartal zu zugeben, dass ihre
Verlustvorsorgen nicht ausreichend waren. Es setzte ein massiver
Vertrauensverlust in das Finanzsystem als Ganzes ein, was die Krise über die
USA hinaus weiter ausufern ließ. Hypothetisch gesehen, hätte das vielleicht
nicht so weit kommen müssen, hätte man zu diesem Zeitpunkt weltweit die
Buchhaltungsregeln nach deutschen Handelsrecht angewandt und ausreichend
vorhandene Stille Reserven unbemerkt auflösen können.
Das die Realität anders war und ist, wissen wir. Zu dieser
Realität gehört, ein kapitalmarktorientiertes deutsches Unternehmen, das auch
an amerikanischen Börsen notiert sein will, muss heute Bilanzen nach vier
unterschiedlichen Regelwerken erstellen: 1. Nach dem deutschen Handelsrecht, 2.
Nach dem deutschen Steuerrecht, 3. Nach IAS/IFRS und 4. Nach dem US-GAAP. Es
kann bezweifelt werden, ob trotz des enormen damit verbundenen Aufwands
irgendein Anleger wesentlich besser informiert wird.
Aus der Gemengelage einer nationalen amerikanischen
Immobilienblase, komplizierter und zum Teil widersprüchlicher Bilanzierungsregeln,
einer überforderten Bankenaufsicht, politischer Willens- und
Nichtwillensbildung, und einer insgesamt aus den Fugen geratenen Finanzbranche
war eine Krise entstanden, deren Nach- und Auswirkungen selbst acht Jahre
danach tagtäglich immer noch spürbar sind. Vor allem aber ist das zerstörte
Vertrauen aller Investoren bis heute nicht wieder hergestellt worden. Nur eine
dünne Firnis hält derzeit das globale Finanzsystem zusammen. Schon die nächste
lokale Krise kann das weltweite System in sich zusammen fallen lassen.
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